1Q84: Buch 1&2
lebhaft zu, denn die Mehrzahl der Fahrgäste waren Familien auf dem Heimweg von ihrem Strandausflug. Tengo musste an seine Grundschulzeit denken. Sein Vater und er hatten kein einziges Mal einen Ausflug oder eine Reise unternommen. An den Feiertagen des Obon-Fests oder zu Neujahr hatte sein Vater nur untätig zu Hause herumgelegen und geschlafen. Er erinnerte dann an ein leicht verschmutztes Gerät, bei dem man den Stecker herausgezogen hatte.
Als er einen Sitzplatz ergattert hatte und weiter in seinem Taschenbuch lesen wollte, merkte er, dass er es im Zimmer seines Vaters hatte liegen lassen. Er seufzte, dachte dann aber, dass es so wohl am besten war. Er hätte sich beim Lesen ohnehin nicht richtig konzentrieren können. Und die Geschichte von der »Stadt der Katzen« war bei seinem Vater auch besser aufgehoben als bei ihm.
Die Landschaft zog nun in entgegengesetzter Richtung am Fenster vorbei. Der eng an die Berge gepresste dunkle und einsame Küstenstreifen ging bald in das offene Industriegebiet über. Die meisten Fabriken setzten die Arbeit auch nachts fort. Ein Wald von Schornsteinen ragte in die nächtliche Dunkelheit. Aus einigen züngelten rote Flammen wie aus den Rachen gewaltiger Schlangen. Die starken Scheinwerfer riesiger Lastwagen huschten über die Straßen. Das Meer auf der anderen Seite war pechschwarz.
Gegen zehn kam er zu Hause an. Nichts im Briefkasten. Als er die Tür öffnete, erschien ihm seine Wohnung noch leerer als sonst. Dabei war es die gleiche Leere, die er am Morgen zurückgelassen hatte. Das Hemd, das er auf den Boden geworfen hatte, das ausgeschaltete Textverarbeitungsgerät, der Drehstuhl mit der Einbuchtung von seinem Körpergewicht, die auf dem Schreibtisch herumliegenden Radiergummis. Er trank zwei Gläser Wasser, zog sich aus und ging zu Bett. Er schlief sofort ein. Sein Schlaf war so tief wie schon lange nicht mehr.
Als Tengo am nächsten Morgen kurz nach acht aufwachte, fühlte er sich wie neugeboren. Es war ein angenehmes Erwachen, seine Arm- und Beinmuskeln fühlten sich geschmeidig an und bereit zu gesunder Bewegung. Keine Spur von Müdigkeit. Etwas Ähnliches hatte er als Kind empfunden, wenn er zu Beginn des Schuljahrs ein neues Lehrbuch aufschlug. Er verstand den Inhalt noch nicht, dennoch wehte ihm eine Ahnung von neuem Wissen entgegen. Tengo ging ins Bad, um sich zu rasieren. Er rieb sich mit dem Handtuch das Gesicht ab, trug After-Shave auf und betrachtete sich nochmals im Spiegel. Und überzeugte sich, dass er ein neuer Mensch geworden war.
Die Ereignisse vom Tag zuvor erschienen ihm wie ein Traum. Er konnte kaum glauben, dass sie sich wirklich so zugetragen hatten. Obwohl alles noch ganz frisch war, traten nach und nach an den Rändern irreale Stellen zutage. Er war mit dem Zug in die Stadt der Katzen gefahren und zurückgekehrt. Zum Glück hatte ihm im Gegensatz zum Helden in der Geschichte die Rückkehr keine Schwierigkeiten bereitet. Auch schien das, was er in jener Stadt erlebt hatte, eine große Veränderung in ihm bewirkt zu haben.
Natürlich änderte das nichts an seiner gegenwärtigen Lage. Er bewegte sich noch immer nicht freiwillig auf diesem unwegsamen Terrain voller Gefahren und Rätsel. Es gab keine vorhersehbare Entwicklung. Auch ahnte er nicht, was ihm als Nächstes zustoßen würde. Aber immerhin hatte Tengo nun eine Antwort, die ihm vielleicht irgendwie helfen würde, seine Schwierigkeiten zu überwinden.
Jetzt habe ich endlich einen Ansatzpunkt, dachte er. Dass sich definitiv etwas geklärt hatte, konnte er nicht sagen, aber aus den Worten und dem Verhalten seines Vaters hatte er doch einen ungefähren Eindruck von den wahren Umständen seiner Geburt erhalten. Die »Vision«, die ihn so lange gequält und verstört hatte, war kein sinnloses Trugbild. Inwieweit sie die Wahrheit widerspiegelte, wusste er zwar noch immer nicht, aber sie war der einzige Anhaltspunkt, den seine Mutter ihm hinterlassen hatte, und im Guten wie im Schlechten zu einem Fundament seines Lebens geworden. Tengo hatte das Gefühl, ihm sei eine schwere Last von den Schultern genommen worden. Erst jetzt, als er sie los war, spürte er, welches Gewicht er bisher mit sich herumgetragen hatte.
Diese ungewöhnlich ruhige und friedliche Zeit dauerte etwa zwei Wochen. In den Sommerferien unterrichtete Tengo viermal wöchentlich an der Yobiko, in der übrigen Zeit schrieb er an seinem Roman. Niemand meldete sich bei ihm. Tengo hatte keine Ahnung von den Entwicklungen hinsichtlich
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