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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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würde, würde ich schreien wie am Spieß.«
    »In vielen Fällen kann ein Schmerz einen anderen lindern. Oder sie heben sich gegenseitig auf. Empfindungen sind letztendlich relativ.«
    Aomame legte ihre Hand auf das linke Schulterblatt. Als sie die Muskeln mit dem Finger ertastet hatte, spürte sie, dass ihr Zustand ungefähr der gleiche war wie auf der rechten Seite. Mal sehen, wie weit die Relativität reichte. »Ich nehme mir jetzt die linke Seite vor. Es wird wahrscheinlich genauso wehtun wie auf der rechten.«
    »Ich gebe mich ganz in Ihre Hände. Machen Sie sich bitte gar keine Gedanken um mich.«
    »Ich brauche Sie nicht zu schonen, nicht wahr?«
    »Nein, das ist nicht nötig.«
    Aomame bearbeitete also in der gleichen Reihenfolge die Gelenke und die Muskulatur um die linke Schulter herum. Sie ging schonungslos und auf direktestem Weg zu Werke. Der Mann verhielt sich noch gelassener als bei der rechten Schulter und nahm den Schmerz völlig selbstverständlich hin. Nur einmal entrang sich ihm ein erstickter Laut. Na gut, dachte Aomame, mal sehen, wie viel du noch aushältst.
    Nach und nach lockerte sie die Muskulatur an seinem ganzen Körper, hakte alle Punkte der Checkliste ab, die sie im Kopf hatte. Sie brauchte sie nur mechanisch und der Reihe nach durchzugehen. Wie ein pflichtbewusster Nachtwächter, der mit einer Taschenlampe furchtlos seine nächtliche Runde durch ein Gebäude macht.
    Sämtliche Muskeln des Mannes waren mehr oder weniger blockiert . Sein Körper glich einem Landstrich nach einer Naturkatastrophe. Alle Wasserläufe waren verstopft, alle Deiche gebrochen. Ein normaler Mensch hätte in diesem Zustand gar nicht mehr aufstehen können. Vielleicht nicht einmal mehr atmen. Aber seine robuste Konstitution und sein starker Wille hielten diesen Mann aufrecht. Trotz der verabscheuungswürdigen Taten, die er begangen hatte, konnte Aomame nicht umhin, ihm professionellen Respekt für die stoische Haltung zu zollen, mit der er die schlimmsten Schmerzen über sich ergehen ließ.
    Sie verdrehte jeden einzelnen Muskel, so weit es ging, zog, bog und dehnte gewaltsam und bis zum Äußersten. Jedes Mal gaben die Gelenke ein scharfes Krachen von sich. Sie wusste, dass das, was sie tat, an Folter grenzte. Sie hatte die Muskeln schon vieler Athleten gedehnt, hartgesottener Sportler, die mit körperlichen Schmerzen lebten. Aber unter Aomames Händen schrien selbst die stärksten Männer unweigerlich irgendwann auf. Es war unmöglich, ihr Stretching schweigend zu ertragen. Einige urinierten sogar. Aber dieser Mann stöhn te nicht einmal. Unglaublich. Dennoch musste er große Schmerzen habe, da ihm der Schweiß in Strömen den Nacken hinunterrann. Aomame geriet selbst ins Schwitzen.
    Sie brauchte etwa dreißig Minuten, um die Muskulatur auf der Körperrückseite zu lockern. Als sie fertig war, machte sie eine Pause und wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn.
    Sonderbar, dachte Aomame. Ich bin hier, um diesen Mann zu töten. Meinen Eispick habe ich in der Tasche. Ich brauche nur seine Spitze an der richtigen Stelle anzusetzen und auf den Griff zu schlagen, und alles ist vorbei. Der Mann wäre tot, ehe er wüsste, wie ihm geschieht. Er käme ins Jenseits und wäre von allen Schmerzen befreit. Dennoch versuche ich alles, was in meiner Macht steht, um seine Schmerzen zumindest ein wenig zu lindern.
    Wahrscheinlich, weil das der Auftrag ist, den man mir gegeben hat. Ich gehöre wohl zu dem Typ Mensch, der seine ganze Kraft aufbietet, um eine ihm gestellte Aufgabe zu erfüllen. Erhalte ich also den Auftrag, jemandes Muskeln wieder hinzubiegen, gebe ich mir die größte Mühe. Wenn ich einen Menschen töten muss und der Grund mir einleuchtet, tue ich auch das mit vollem Einsatz.
    Natürlich kann ich nicht beide Aufgaben gleichzeitig erledigen, da ihre Ziele einander entgegengesetzt sind. Jede erfordert besondere eigene Maßnahmen, die mit der anderen unvereinbar sind. Also kann ich sie nur separat erfüllen. Vorläufig werde ich mich bemühen, die Muskeln dieses Mannes in einen wenigstens einigermaßen ordentlichen Zustand zurückzuversetzen. Am besten konzentriere ich mich erst einmal nur darauf. Über den zweiten Schritt kann ich nachdenken, wenn ich den ersten hinter mir habe.
    Hinzu kam, dass Aomame ihre Neugier nicht im Zaum halten konnte. Das ungewöhnliche chronische Leiden dieses Mannes, seine dadurch stark in Mitleidenschaft gezogene, im Grunde jedoch gesunde und sogar exzellente Muskulatur,

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