1Q84: Buch 1&2
überprüfbar ist.«
Aomame schürzte leicht die Lippen. »Ich sage nicht, dass das immer so ist. In dem Bereich, in dem ich beruflich tätig bin , ist es so. Wenn es überall so wäre, dann wäre wohl vieles auf der Welt leichter verständlich.«
»Ganz und gar nicht«, sagte der Mann.
»Wieso nicht?«
»Die meisten Menschen auf der Welt sind nicht auf der Suche nach beweisbarer Wahrheit. Die Wahrheit ist in den meisten Fällen, Sie sagten es bereits, mit Schmerz verbunden. Und kaum jemand sehnt sich nach schmerzlichen Wahrheiten. Was der Mensch braucht, ist etwas Schönes, Angenehmes, das ihm zumindest den Glauben vermittelt, sein Dasein habe einen tieferen Sinn. Aus diesem Grund sind die Religionen entstanden.« Der Mann dehnte mehrmals seinen Hals, ehe er weitersprach.
»Fall A: Wenn sich das Dasein eines Menschen als sinnvoll und gelungen erweist, wird es von ihm als wahr empfunden. Fall B: Wer sich jedoch als unzulänglich und schwach empfindet, dem wird sein Leben als unwahr gelten. Das ist doch ganz klar. Behauptet jemand Kandidat B gegenüber, seine Unzulänglichkeiten entsprächen der Wahrheit, wird B diesen Menschen ablehnen, hassen und in manchen Fällen sogar tätlich angreifen. Ob eine Sache logisch oder beweisbar ist, hat keinerlei Bedeutung für die Betroffenen. Die meisten Menschen lehnen die Vorstellung ab, unzulänglich und schwach zu sein, und bewahren sich durch diese Weigerung ihre geistige Gesundheit.«
»Aber menschliche Körper, alle Körper, sind mit gewissen geringfügigen Abweichungen unzulänglich und schwach. Ist das nicht offensichtlich?«, erwiderte Aomame.
»Genau«, sagte der Mann. »Jeder Leib ist, mit graduellen Unterschieden, unzulänglich und schwach, dem Verfall und der Auflösung anheimgegeben. Das ist eine nicht zu leugnende Wahrheit. Aber was ist mit dem Geist des Menschen?«
»Über den Geist versuche ich möglichst nicht nachzudenken.«
»Warum nicht?«
»Es besteht keine Notwendigkeit dazu.«
»Und warum nicht? Ist es nicht eine wesentliche Aufgabe im Leben eines Menschen, über seinen Geist nachzudenken? Abgesehen davon, ob es einen praktischen Nutzen hat oder nicht?«
»Mir bleibt die Liebe«, sagte Aomame kurz.
Du meine Güte, dachte sie, was mache ich denn da? Erzähle einem Mann, den ich gleich umbringen will, etwas von Liebe.
Wie der Wind eine glatte Wasserfläche kräuselt, breitete sich auf dem Gesicht des Mannes ein leichtes Lächeln aus, in dem sich ein natürliches und – wie sie zugeben musste – sympathisches Gefühl ausdrückte.
»Und es genügt, wenn man liebt?«, fragte er.
»So ist es.«
»Der Gegenstand der Liebe, von der Sie sprechen, ist eine bestimmte Person, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Aomame. »Ein bestimmter Mann.«
»Die bedingungslose Liebe zu einem unzulänglichen und schwachen Körper …«, sagte der Mann ruhig. Er machte eine Pause. »Offenbar brauchen Sie keine Religion.«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Weil Ihr eigenes Dasein sozusagen schon eine Religion ist.«
»Sie haben vorhin gesagt, Religion diene eher dem schönen Schein als der Wahrheit. Wie ist es mit der religiösen Gemeinschaft, der Sie selbst vorstehen?«
»Um ehrlich zu sein, ich halte das, was ich tue, nicht für Religionsausübung«, sagte der Mann. »Ich höre Stimmen und gebe das Gehörte weiter. Nur ich kann die Stimmen hören. Und das, was ich höre, ist die absolute Wahrheit. Aber ich kann nicht beweisen, dass diese Botschaft die Wahrheit ist . Alles, was ich tun kann, ist, Ihnen eine Kostprobe meiner Gabe zu gewähren.«
Aomame biss sich leicht auf die Lippen und legte das Handtuch ab. Was ist das für eine Gabe?, hätte sie gern gefragt. Aber sie hielt sich zurück. Die Sache begann sich zu sehr in die Länge zu ziehen. Und sie hatte noch etwas Wichtiges zu erledigen.
»Können Sie sich noch einmal auf den Bauch legen? Ich würde zum Schluss gern noch Ihre Nackenmuskulatur lockern«, sagte sie.
Der Mann legte seinen riesigen Körper wieder auf die Matte und wandte Aomame seinen kräftigen Nacken zu.
»Auf alle Fälle haben Sie den Magic Touch«, sagte er.
»Magic Touch?«
»Finger, von denen ungewöhnliche Kräfte ausgehen. Deren Empfinden so fein ist, dass sie spezielle Punkte am menschlichen Körper ertasten können. Diese besondere Gabe besitzt nur eine sehr begrenzte Anzahl von Menschen. Man kann sie nicht erlernen und nicht üben. Ich bin auf einem anderen Gebiet mit etwas Ähnlichem ausgestattet. Aber für jede Gabe hat der Mensch einen
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