1Q84: Buch 1&2
Preis zu zahlen.«
»So habe ich das noch nie gesehen«, sagte Aomame. »Ich habe gelernt, trainiert und mir meine Technik selbst angeeignet. Es ist nichts, das mir von jemandem gegeben wurde.«
»Ich will nicht streiten. Aber eins sollte man sich merken. Gott gibt, und Gott nimmt. Auch wenn Sie nicht wissen, was er Ihnen gegeben hat – Gott erinnert sich genau daran. Er vergisst nichts. Mit den Gaben, die einem gewährt wurden, sollte man möglichst sorgsam umgehen.«
Aomame betrachtete ihre zehn Finger. Sie legte sie an den Nacken des Mannes und konzentrierte sich auf die Fingerspitzen. Gott gibt, Gott nimmt .
»Gleich sind wir fertig. Jetzt kommt nur noch der letzte Schliff«, sagte sie mit rauer Stimme, während sie sich über den Rücken des Mannes beugte.
Ihr war, als höre sie fernes Donnergrollen. Sie hob das Gesicht und blickte aus dem Fenster. Nichts zu sehen. Nur der dunkle Himmel. Plötzlich ertönte wieder das gleiche Geräusch. Es hallte dumpf in der Stille des Zimmers.
»Es fängt an zu regnen«, sagte der Mann gleichmütig.
Aomame legte die Hand auf den Nacken des Mannes und tastete nach dem bestimmten Punkt. Dazu musste sie sich außerordentlich stark konzentrieren. Sie schloss die Augen, hielt den Atem an und lauschte auf den Fluss seines Blutes. Ihre Fingerspitzen versuchten die Information aus der Elastizität und Wärme der Haut herauszulesen. Es war nur ein winziger Punkt. Bei manchen war er leicht zu finden, bei anderen schwieriger. Bei dem Leader war Letzteres der Fall. So schwierig, wie in einem stockdunklen Zimmer nach einer Münze zu kramen, ohne dabei ein Geräusch zu verursachen. Dennoch hatte Aomame den Punkt bald entdeckt. Sie legte ihre Fingerspitze darauf und prägte sich die Stelle genau ein. Als würde sie eine Landkarte mit einer Markierung versehen. Das war ihre besondere Gabe.
»Bitte, bewegen Sie sich jetzt nicht«, wandte Aomame sich an den auf dem Bauch liegenden Mann. Dann streckte sie die Hand nach der Sporttasche neben sich aus und nahm das Hartschalenetui mit dem kleinen Eispick heraus.
»Hier im Nacken haben Sie noch eine kleine Blockade«, sagte sie in gelassenem Ton. »Ich kann sie nicht mit den Fingern lösen. Wenn ich sie entfernen kann, werden Ihre Schmerzen stark nachlassen. Ich möchte dort eine einfache Akupunkturnadel setzen. Die Stelle ist empfindlich, aber ich habe das schon öfter praktiziert, und es war kein Fehler. Darf ich?«
Der Mann seufzte tief. »Ich gebe mich völlig in Ihre Hände. Ich akzeptiere alles, was meine Schmerzen lindert.«
Aomame nahm den Eispick aus dem Etui und entfernte den Korken von seiner Spitze. Sie war wie immer von tödlicher Schärfe. Die Nadel in der linken Hand, tastete sie mit dem Zeigefinger der rechten nach dem Punkt, den sie nun schon kannte. Kein Zweifel. Da war er. Sie setzte die Spitze der Nadel an und holte tief Luft. Gleich würde sie die rechte Handfläche wie einen Hammer auf den Griff fallen lassen und die feine Spitze – pfftt! – in diesen Punkt treiben. Und alles wäre vorbei.
Aber irgendetwas hielt sie zurück. Aus irgendeinem Grund konnte Aomame ihre erhobene rechte Handfläche nicht senken. Gleich ist alles zu Ende, dachte sie. Mit nur einer Bewegung kann ich diesen Mann ins Jenseits befördern. Dann mit eiskalter Miene aus dem Zimmer gehen, mein Gesicht und meinen Namen ändern und jemand anders werden. Ich kann es. Ich habe keine Angst und keine Gewissensbisse.
Dieser Mann hatte unzweifelhaft den Tod verdient. Er würde seine schändlichen Taten nur wiederholen. Dennoch konnte sie es nicht. Ein vager, aber hartnäckiger Zweifel hatte sich eingestellt und ließ sie zögern.
Du darfst die Sache nicht zu leicht nehmen, sagte ihr Instinkt.
Es war nicht nur Einbildung. Sie wusste, dass hier etwas nicht stimmte. Etwas war falsch. Verschiedene widerstreitende Kräfte und Faktoren prallten in Aomame aufeinander. Im Halbdunkel verzerrte sich ihr Gesicht.
»Was ist los?«, sagte der Mann. »Ich warte. Auf den letzten Schliff.«
Als er das sagte, erkannte Aomame endlich den Grund für ihr Zögern. Der Mann weiß Bescheid, dachte sie. Er weiß, dass ich ihm jetzt etwas antun will.
»Halten Sie sich nicht zurück«, sagte er heiter. »Alles in Ordnung. Das, was Sie vorhaben, entspricht genau meinen Wünschen.«
Wieder donnerte es. Doch kein Blitz war zu sehen. Es grollte nur wie fernes Geschützfeuer. Die Schlacht war noch offen. Der Mann sprach weiter.
»Ihre Behandlung war perfekt. Sie beherrschen
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