1Q84: Buch 1&2
und ich weiß das. Von mir aus können Sie jetzt unter Qualen elendiglich zugrunde gehen. Es liegt nicht in meinem Interesse, Ihnen den Tod zu erleichtern.«
Der Mann, der noch immer auf dem Bauch lag, nickte. »Wenn du mich tötest, werden meine Leute dich so lange jagen, bis sie dich finden.« Er duzte Aomame jetzt. »Sie sind ein fanatischer Haufen, zäh und engstirnig. Mit mir würde die Gemeinschaft ihre treibende, einigende Kraft verlieren. Aber hat sich ein System wie dieses einmal herausgebildet, beginnt es ein Eigenleben zu führen.«
Aomame hörte zu.
»Schlimm, was deiner Freundin passiert ist«, sagte der Mann.
»Meiner Freundin?«
»Die mit den Handschellen. Wie hieß sie noch?«
In Aomame kehrte plötzlich Ruhe ein. Sie hatte keine widerstreitenden Gefühle mehr. Nur eine bleierne Stille senkte sich über sie.
»Ayumi Nakano«, sagte Aomame.
»Eine unglückselige Angelegenheit.«
»Haben Sie das getan?«, fragte Aomame kalt. »Haben Sie Ayumi umgebracht?«
»Aber nein. Ich hatte keinen Grund, sie zu töten.«
»Aber Sie wissen davon. Wer hat Ayumi umgebracht?«
»Unsere Kundschafter sind der Sache nachgegangen«, sagte der Mann. »Wer es war, wissen wir noch nicht. Nur, dass deine Freundin, die Polizistin, in einem Hotel von jemandem erdrosselt wurde.«
Aomame ballte ihre Rechte zu einer harten Faust. »Aber Sie haben gesagt, ›schlimm, was deiner Freundin passiert ist‹.«
»Ich konnte es nicht verhindern. Wer sie auch getötet haben mag, es ist immer das schwächste Glied, auf das sie als Erstes zielen. Wie Wölfe aus einer Herde Schafe das schwächste Tier auswählen.«
»Heißt das, Ayumi war mein schwächster Teil?«
Der Mann antwortete nicht.
Aomame schloss die Augen. »Aber warum mussten sie sie töten? Sie war ein liebes Mädchen. Sie hat niemandem etwas zuleide getan. Warum? Weil ich in diese Sache verwickelt bin? Da hätte es doch gereicht, mich aus dem Weg zu räumen.«
»Dich können sie nicht vernichten.«
»Warum nicht?«, fragte Aomame. »Warum können die mich nicht vernichten?«
»Weil du bereits zu einem besonderen Wesen geworden bist.«
»Ich bin ein besonderes Wesen?«, sagte Aomame. »In welcher Hinsicht?«
»Das wirst du bald herausfinden.«
»Bald?«
»Wenn die Zeit dazu gekommen ist.«
Aomame zog wieder eine Grimasse. »Ich verstehe nicht, wovon Sie reden.«
»Du wirst es verstehen.«
Aomame schüttelte den Kopf. »Wie dem auch sei, an mich kommen sie nicht heran. Also haben sie sich eine Schwachstelle in meinem Umfeld gesucht. Um mich zu warnen. Damit ich Sie nicht umbringe.«
Der Mann schwieg. Ein zustimmendes Schweigen.
»Das ist furchtbar«, sagte Aomame. Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben Ayumi getötet, obwohl das nichts an der Realität ändert.«
»Nein, sie sind keine Mörder. Sie lassen sich nicht dazu herab, jemanden eigenhändig umzubringen. Was deine Freundin getötet hat, war etwas, das in ihr selbst angelegt war. Früher oder später wäre es zu einer ähnlichen Tragödie gekommen. Sie lebte riskant. Die haben nur den Anstoß gegeben. Quasi die Einstellung des Timers geändert.«
Die Einstellung des Timers?
»Ayumi war kein elektrischer Backofen. Sondern ein lebendiger Mensch. Riskant oder nicht, sie hat mir viel bedeutet. Und ihr habt sie mir einfach genommen. Sinnlos und grausam.«
»Dein Zorn ist gerechtfertigt«, sagte der Mann. »Du kannst ihn gern gegen mich richten.«
Aomame schüttelte den Kopf. »Auch wenn ich Sie jetzt erledige, macht das Ayumi nicht wieder lebendig.«
»Aber du könntest den Little People damit einen Schlag versetzen. Sozusagen Rache nehmen. Sie wollen nicht, dass ich schon sterbe. Durch meinen Tod würde eine Lücke entstehen. Zumindest zeitweilig, bis sie einen Nachfolger finden. Für sie wäre das ein schwerer Schlag. Und zugleich ein Vorteil für dich.«
»Jemand hat einmal gesagt, nichts sei so kostspielig und fruchtlos wie Rache.«
»Winston Churchill. Allerdings hat er dies, soweit ich mich erinnere, geäußert, um das Haushaltsdefizit des Britischen Empire zu entschuldigen. Der Satz hat keine moralische Bedeutung.«
»Moral interessiert mich nicht. Ihr Körper wird von etwas Rätselhaftem aufgezehrt, und Sie werden unter Schmerzen sterben, ohne dass ich einen Finger krumm machen muss. Warum sollte ich Mitleid haben? Wenn der Welt alle Moral flöten geht und sie zusammenbricht, ist das nicht meine Schuld.«
Der Mann seufzte abermals tief. »Ich verstehe. Ich verstehe dich sehr gut. Pass
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