1Q84: Buch 1&2
Verbrecher. Ich habe mich körperlich mit weiblichen Menschen vereinigt, die noch nicht geschlechtsreif waren. Auch wenn ich es nicht wollte.«
Aomame seufzte nur tief. Sie wusste nicht, wie sie das emotionale Chaos, das in ihr wütete, zur Ruhe bringen sollte. Ihr Gesicht verzerrte sich, die rechte und die linke Hand schienen verschiedene Dinge anzustreben.
»Ich möchte, dass Sie mich töten«, sagte der Mann. »Ich will nicht länger auf dieser Welt leben, ganz gleich unter welchen Umständen. Ich bin ein Mensch, der eliminiert werden sollte, um das Gleichgewicht der Welt zu erhalten.«
»Gesetzt den Fall, ich töte Sie, was ist dann?«
»Die Little People verlieren den, der die Stimmen hört. Es gibt noch keinen Nachfolger für mich.«
»Und das soll ich glauben?«, schnaubte Aomame. »Wissen Sie, was Sie sind? Ein perverser Typ, der sich eine schöne Theorie zurechtgelegt hat, um seine Schweinereien zu rechtfertigen. Die Little People hat es nie gegeben, auch nicht die Stimme und die Gnade Gottes. Sie sind ein windiger Scharlatan, der sich als Prophet und religiöser Führer aufspielt. Von Ihrer Sorte gibt es jede Menge auf der Welt.«
»Sehen Sie die Tischuhr?«, sagte der Mann, ohne den Kopf zu heben. »Dort rechts auf der Truhe.«
Aomame blickte nach rechts. Dort stand eine etwa hüfthohe geschwungene Truhe und auf ihr eine marmorne Uhr. Sie sah schwer aus.
»Sehen Sie sie bitte an. Schauen Sie nicht weg.«
Also drehte Aomame den Hals und starrte auf die Uhr. Sie spürte an ihren Fingern, wie sämtliche Muskeln des Mannes hart wie Stein wurden. Sie strahlten eine unglaublich starke Energie aus. Wie auf den Befehl dieser Energie trennte sich die Uhr von der Oberfläche der Truhe, bis sie zu schweben schien. Sie hob sich um etwa fünf Zentimeter in die Luft, entschloss sich mit leichtem Zittern, als würde sie zögern, für eine Position und schwebte dort für etwa zehn Sekunden. Dann erschlafften die Muskeln des Mannes, und die Uhr fiel mit einem dumpfen Aufschlag auf die Truhe zurück. Als sei ihr plötzlich eingefallen, dass auf der Erde Schwerkraft herrschte.
Der Mann atmete lange und erschöpft aus.
»Selbst solche Kleinigkeiten erfordern eine Menge Energie«, sagte er, nachdem er die Luft ganz ausgestoßen hatte. »So viel, dass es mich aufzehrt. Aber ich wollte, dass Sie zumindest begreifen, dass ich kein windiger Scharlatan bin.«
Aomame gab keine Antwort. Durch tiefes Ein- und Ausatmen gewann der Mann seine Kraft zurück. Die Uhr tickte reglos, als sei nichts gewesen, weiter auf ihrer Truhe vor sich hin. Sie war nur ein wenig verrutscht. Aomame hatte den Sekundenzeiger im Blick behalten, während er einmal das Zifferblatt umwanderte.
»Sie haben besondere Fähigkeiten«, sagte sie mit rauer Stimme.
»Wie Sie sehen.«
»In dem Roman Die Brüder Karamasow gibt es diese Stelle von Christus und dem Teufel«, sagte Aomame. »Christus fastet in der Wüste, und der Teufel verlangt von ihm, er solle ein Wunder wirken und Steine in Brot verwandeln. Aber Christus gehorcht ihm nicht. Denn das Wunder ist eine Versuchung des Teufels.«
»Ich weiß. Auch ich habe Die Brüder Karamasow gelesen. Sie haben natürlich recht. Eine großspurige Demonstration wie diese eben ist kein Beweis. Aber die Zeit, die ich habe, um Sie zu überzeugen, ist begrenzt. Also habe ich diesen Versuch gewagt.«
Aomame schwieg.
»Wenn es auf dieser Welt das absolut Gute nicht gibt, gibt es auch das absolut Böse nicht«, sagte der Mann. »Gut und Böse sind keine festen, unveränderlichen Größen, sondern Aspekte, die ständig je nach Perspektive wechseln. Was in einem Moment gut ist, kann im nächsten böse sein. Und umgekehrt. Es ist diese Beschaffenheit der Welt, die Dostojewski in Die Brüder Karamasow beschreibt. Entscheidend ist, das Gleichgewicht zwischen den sich in unablässiger Bewegung befindlichen Kategorien von Gut und Böse zu erhalten. Bekommt eine Seite das Übergewicht, wird es schwierig, eine realistische Moral aufrechtzuerhalten. Ja, das Gleichgewicht an sich ist das Gute . Und ich muss sterben, um dieses Gleichgewicht herzustellen.«
»Ich sehe keine Notwendigkeit mehr, Sie hier und jetzt zu töten«, sagte Aomame aufrichtig. »Sie wissen es wahrscheinlich: Ich bin in der Absicht gekommen, Sie umzubringen. Ein Mensch wie Sie darf nicht leben. Ich hatte vor, Sie unter allen Umständen vom Angesicht dieser Erde zu tilgen. Doch jetzt habe ich diese Absicht nicht mehr. Sie leiden fürchterliche Schmerzen,
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