1Q84: Buch 1&2
Ihr Metier tadellos. Ich zolle Ihren Fähigkeiten meinen reinsten Respekt. Aber wie Sie schon sagten, letztlich ist das nicht mehr als eine vorübergehende Lösung. Ich kann nur geheilt werden, indem man das Übel bei der Wurzel packt. In den Keller geht und die Hauptsicherung herausdreht. Das werden Sie jetzt für mich tun.«
Aomame nahm die Nadel in die linke Hand, setzte ihm die Spitze in den Nacken und erstarrte mit erhobener rechter Hand. Sie konnte weder vor noch zurück.
»Wenn ich wollte, könnte ich Sie jederzeit an Ihrem Vorhaben hindern. Ganz einfach«, sagte der Mann. »Bringen Sie bitte Ihre Rechte nach unten.«
Aomame wollte die rechte Hand senken. Doch sie konnte sie plötzlich nicht mehr bewegen. Sie ragte starr wie die Hand einer steinernen Statue in die Höhe.
»Ich will Sie nicht hindern, aber ich besitze die Macht dazu. Sie dürfen Ihre Rechte nun wieder bewegen und rechts wie links über mein Leben bestimmen.«
Aomame spürte, dass sie wieder frei über ihre rechte Hand verfügen konnte. Sie öffnete und schloss sie ohne jegliches Unbehagen. Vielleicht hatte er eine Art Hypnose angewendet. Aber die Kraft war so außerordentlich groß gewesen.
»Mir wurde besondere Macht verliehen. Doch im Gegenzug haben sie alles Mögliche von mir gefordert. Ihre Begierden wurden zu meinen Begierden. Diese Begierden sind äußerst grausam, und man kann sich ihnen nicht widersetzen.«
»Sie«, sagte Aomame. »Sind das die Little People?«
»Sie wissen also von ihnen. Gut. Das kürzt die Sache ab.«
»Ich kenne nur den Namen. Was sie sind, weiß ich nicht.«
»Es gibt wohl niemanden, der genau weiß, was die Little People sind«, sagte der Mann. »Das Einzige, was wir wissen, ist, dass es sie gibt. Haben Sie mal Der goldene Zweig von Frazer gelesen?«
»Nein.«
»Ein hochinteressantes Buch. Man erfährt die verschiedensten Dinge daraus. In einigen Gesellschaften des Altertums war es Gesetz, den König zu töten, sobald seine Regierungszeit abgelaufen war. Sie dauerte zehn bis zwölf Jahre. War diese Zeit um, wurde er geschlachtet. Es galt als notwendig für die Gemeinschaft, und auch der König selbst akzeptierte seinen Tod. Er musste grausam und blutig sein. Dadurch wurde ihm große Ehre zuteil. Warum er getötet werden musste? Zu jener Zeit war der König jemand, der in Vertretung seines Volkes ›Stimmen vernahm‹. Solche Personen wurden von sich aus zu einem Schaltkreis, der uns mit ihnen verband. Und dass derjenige, der ›Stimmen vernahm‹, nach einer gewissen Zeitspanne getötet werden musste, war eine für die Gemeinschaft notwendige Tat. Sie diente dazu, das Gleichgewicht zwischen den Kräften, die die Little People entwickelten, und dem Bewusstsein der Menschen auf der Erde zu erhalten. Herrschaft war in der Welt des Altertums gleichbedeutend damit, die Stimmen der Götter zu vernehmen, ihren Willen zu kennen. Aber natürlich starb diese Sitte irgendwann aus, die Monarchen wurden nicht mehr getötet, ihre Macht wurde weltlich und erblich. Und sie hörten keine Stimmen mehr.«
Während Aomame zuhörte, öffnete und schloss sie unbewusst ihre nach oben gestreckte Rechte.
Der Mann fuhr fort. »Seit jeher hat man ihnen die verschiedensten Namen gegeben, meist jedoch gar keinen. Sie waren einfach da . Die Bezeichnung Little People ist letztlich nicht mehr als ein Provisorium. Meine Tochter, die damals erst zehn Jahre alt war, hat sie ›die kleinen Leute‹ genannt. Sie hatte sie mitgebracht. Ich habe den Namen dann in Little People geändert. Weil es sich leichter spricht.«
»Und Sie wurden König.«
Der Mann atmete stark durch die Nase ein und hielt kurz den Atem an, ehe er ihn langsam ausstieß. »Nicht König. Ich wurde der, ›der Stimmen hört‹.«
»Und jetzt wollen Sie geschlachtet werden.«
»Nein, zu schlachten brauchen Sie mich nicht. Immerhin befinden wir uns im Jahre 1984 und mitten in einer Großstadt. Es braucht nicht besonders blutig zu werden. Es genügt mir, wenn Sie meinem Leben rasch ein Ende setzen.«
Aomame schüttelte den Kopf und lockerte ihre Muskeln. Die Nadel war noch immer an dem Punkt im Nacken aufgesetzt, aber in ihr regte sich nicht der geringste Wunsch, den Mann zu töten.
»Sie haben mehrere kleine Mädchen vergewaltigt. Kinder, die kaum zehn Jahre alt waren«, sagte Aomame.
»Das ist richtig«, sagte der Mann. »Nach allgemeiner Vorstellung habe ich sie gegen ihren Willen dazu gezwungen. In den Augen der irdischen Gerichtsbarkeit bin ich ein
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