1Q84: Buch 1&2
dienten. Zumindest sahen sie in Tengos Augen so aus. Der wohlgestaltete schlanke Hals darunter schimmerte verlockend wie eine in verschwenderischem Sonnenschein gereifte Frucht. Er war von einer unendlichen Reinheit, wie gemacht für Marienkäfer und Morgentau. Es war das erste Mal, dass er Fukaeri mit aufgestecktem Haar sah, aber es war ein ans Wunderbare grenzender Anblick, vertraut und schön zugleich. Tengo blieb, obwohl er die Tür bereits hinter sich geschlossen hatte, eine Weile im Flur stehen. Ihr entblößter Nacken und ihre Ohren berührten ihn ebenso stark wie die Nacktheit anderer Frauen, und das verwirrte ihn zutiefst. Wie einem Forscher, der eine verborgene Quelle des Nils entdeckt hat, verschlug es Tengo einen Moment lang die Sprache. Die Hand noch immer am Türknauf, starrte er Fukaeri mit halbgeschlossenen Augen an.
»Ich war gerade unter der Dusche«, sagte sie zu Tengo, der wie angewurzelt an der Tür stand. Sie sprach mit ernster Stimme, als sei ihr gerade etwas sehr Wichtiges eingefallen. »Ich habe Ihr Shampoo und Ihre Spülung benutzt.«
Tengo nickte. Dann riss er sich mit einer gewissen Anstrengung endlich vom Türknauf los und schloss ab. Shampoo? Spülung? Er betrat den Raum.
»Hat jemand von denen angerufen?«, fragte Tengo.
»Niemand«, sagte Fukaeri und schüttelte leicht den Kopf.
Tengo trat ans Fenster, schob den Vorhang ein wenig zur Seite und sah nach draußen. An der Szenerie vor seinem Fenster war nichts Auffälliges zu entdecken. Keine verdächtigen Personen, keine verdächtigen parkenden Autos. Nur der übliche langweilige Blick auf seine langweilige Wohngegend. Die verkrüppelten Bäume am Straßenrand waren von grauem Staub bedeckt, die Leitplanke war völlig verbeult, und mehrere rostige Fahrräder, die niemand mehr abholen würde, standen herum. An einem Zaun hing ein Schild mit einem Slogan der Polizei: »Alkohol am Steuer ist eine Einbahnstraße und kommt teuer.« (Ob es bei der Polizei besondere Experten für diese Sprüche gab?) Ein bösartig aussehender alter Mann führte einen bösartig aussehenden Mischlingshund spazieren. Eine dumm aussehende Frau fuhr in einem hässlichen Kleinwagen vorbei. Übel aussehende Stromleitungen hingen zwischen hässlichen Strommasten. Der Blick aus dem Fenster belegte einen Zustand der Welt, der durch die ungehinderte Ausbreitung kleiner Welten, von denen jede einzelne ihre eigene dezidierte Form hatte, irgendwo zwischen »tragisch« und »freudlos« angesiedelt war.
Andererseits existierten auf dieser Welt auch unleugbar schöne Ansichten, wie Fukaeris Ohren und ihr Hals. Es war nicht leicht zu entscheiden, auf was man mehr vertrauen sollte. Tengo knurrte leise und tief wie ein großer verwirrter Hund. Dann schloss er den Vorhang, um in seine eigene kleine Welt zurückzukehren.
»Weiß Professor Ebisuno, dass du hier bist?«, fragte Tengo.
Fukaeri schüttelte den Kopf. Der Professor wusste nichts.
»Willst du ihm nicht Bescheid sagen?«
Fukaeri schüttelte den Kopf. »Kann nicht.«
»Weil es gefährlich wäre?«
»Vielleicht geht das Telefon nicht und die Post auch nicht.«
»Also bin ich der Einzige, der weiß, dass du hier bist.«
Fukaeri nickte.
»Hast du Kleidung zum Wechseln und so was dabei?«
»Nur ein bisschen«, sagte Fukaeri mit einem Blick auf ihre Umhängetasche aus Segeltuch. Viel konnte nicht darin sein.
»Aber das macht mir nichts aus«, sagte das junge Mädchen.
»Wenn es dir nichts ausmacht, macht es mir natürlich auch nichts aus«, sagte Tengo.
Tengo ging in die Küche und setzte einen Kessel mit Wasser auf. Er füllte Teeblätter in eine Teekanne.
»Kommt die Frau, mit der Sie befreundet sind«, fragte Fukaeri.
»Sie kommt nicht mehr«, erwiderte Tengo kurz.
Fukaeri schwieg und sah Tengo ins Gesicht.
»Vorläufig nicht«, fügte er hinzu.
»Das ist meine Schuld«, fragte Fukaeri.
Tengo schüttelte den Kopf. »Wessen Schuld das ist, weiß ich nicht. Aber deine ist es, glaube ich, nicht. Wahrscheinlich meine. Und vielleicht auch ein bisschen ihre eigene.«
»Aber jedenfalls kommt sie nicht mehr.«
»So ist es. Sie kommt nicht mehr. Wahrscheinlich. Deshalb kannst du ruhig bleiben.«
Fukaeri dachte eine Weile stumm darüber nach. »Sie ist verheiratet«, fragte sie dann.
»Ja, und sie hat zwei Kinder.«
»Aber das sind nicht Ihre Kinder.«
»Natürlich nicht. Sie hatte sie schon, bevor sie mich kennenlernte.«
»Sie haben sie geliebt.«
»Vielleicht«, sagte Tengo. Mit gewissen
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