1Q84: Buch 1&2
hätten vor langer Zeit den Mut aufbringen sollen, einander zu suchen. Dann hätten wir in unserer eigentlichen Welt zusammen sein können.«
»Hypothetisch, ja«, sagte der Mann. »Doch in der Welt des Jahres 1984 hättest du so nicht gedacht . Ursache und Wirkung folgen nie unmittelbar aufeinander, sondern stets in versetzter Form. Das gilt für alle Welten.«
Tränen strömten aus Aomames Augen. Sie weinte um das, was sie schon verloren hatte. Und um das, was sie noch verlieren würde. Doch irgendwann kam der Augenblick, in dem sie – wie lange hatte sie geweint? – nicht mehr weinen konnte. Ihre Tränen versiegten, als seien ihre Gefühle gegen eine unsichtbare Wand gestoßen.
»Also gut«, sagte Aomame. »Es gibt keine Garantie. Und nicht einen Beweis. Die Einzelheiten verstehe ich auch nicht richtig. Dennoch muss ich wohl auf Ihren Vorschlag eingehen. Ich werde Sie, wie Sie es sich wünschen, von dieser Welt verschwinden lassen. Ihnen einen schmerzlosen, schnellen Tod gewähren. Damit Tengo am Leben bleibt.«
»Wir kommen also ins Geschäft?«
»Ja.«
»Du wirst wahrscheinlich sterben«, sagte der Mann. »Sie werden dich jagen und bestrafen. Grausam bestrafen. Es sind fanatische Menschen.«
»Egal.«
»Weil du ihn liebst.«
Aomame nickte.
»Ohne deine Liebe wäre dein Leben nicht mehr als eine Honky-tonk parade , ein Tingeltangel«, sagte der Mann. »Wie in dem Lied.«
»Wird Tengo auch bestimmt überleben, wenn ich Sie töte?«
Der Mann schwieg eine Weile. »Er bleibt am Leben«, sagte er dann. »Du kannst meinen Worten Glauben schenken. Das kann ich dir im Austausch für mein Leben gewähren.«
»Und für meins.«
»Manchmal kann man nur sein Leben geben«, sagte der Mann.
Aomame ballte die Fäuste. »Ehrlich gesagt, ich würde sehr gern am Leben bleiben und mit Tengo zusammen sein.«
Schweigen senkte sich über den Raum. Auch das Donnergrollen verstummte. Einen Moment lang herrschte Totenstille.
»Wenn ich könnte, würde ich deinen Wunsch erfüllen«, sagte der Mann mit ruhiger Stimme. »Wenn es nach mir ginge. Aber bedauerlicherweise besteht diese Möglichkeit nicht. Weder 1984 noch 1Q84. Wenn auch aus jeweils anderen Gründen.«
»Heißt das, nicht einmal im Jahr 1984 würden unsere Wege sich kreuzen?«
»Ihr würdet aneinander denken, aber jeder für sich in Einsamkeit alt werden.«
»Aber im Jahr 1Q84 weiß ich wenigstens, dass ich für ihn sterbe.«
Der Mann atmete laut, ohne etwas zu sagen.
»Noch etwas müssen Sie mir erklären«, sagte Aomame.
»Wenn ich kann«, sagte der Mann, noch immer auf dem Bauch liegend.
»Wird Tengo in irgendeiner Form erfahren, dass ich für ihn gestorben bin? Oder wird alles enden, ohne dass er davon weiß?«
Der Mann dachte lange über ihre Frage nach. »Das hängt wohl von dir ab.«
»Von mir?« Aomame verzog das Gesicht. »Wie das?«
Der Mann zuckte gelassen die Achseln. »Du hast eine schwere Prüfung vor dir. Wenn du sie bestanden hast, wirst du erfahren, wie sich alles verhält. Mehr kann ich dir auch nicht sagen. Niemand weiß, was es heißt zu sterben, bis er tatsächlich stirbt.«
Nachdem Aomame sich mit ihrem Handtuch gründlich die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte, hob sie den zierlichen Eispick vom Boden auf, wo sie ihn abgelegt hatte, und überprüfte noch einmal, ob die feine Spitze intakt war. Dann suchte sie mit den Fingerkuppen der rechten Hand den tödlichen Punkt in seinem Nacken, den sie bereits zuvor ausfindig gemacht hatte. Sie hatte sich die Stelle eingeprägt und fand sie sofort. Behutsam drückte sie mit dem Finger darauf, prüfte den Widerstand und vergewisserte sich noch einmal, dass ihr Instinkt sie nicht trog. Dann atmete sie mehrmals tief ein und aus, beruhigte ihren Herzschlag und entspannte sich. Sie musste ganz klar im Kopf sein, zeitweilig alle Gedanken an Tengo daraus verbannen. Ebenso wie Hass, Zorn, Verwirrung und Mitgefühl. Einen Fehler konnte sie sich nicht erlauben. Sie musste ihr Bewusstsein auf den Tod an sich konzentrieren. Als würde sie den Brennpunkt eines Lichtstrahls darauf richten.
»Ich werde meine Aufgabe nun vollenden«, sagte sie sanft. »Ich muss Sie von dieser Erde entfernen.«
»Und ich werde von allen mir auferlegten Schmerzen erlöst.«
»Von allen Schmerzen, den Little People, der Wandelbarkeit der Welt, sämtlichen Hypothesen … und von der Liebe.«
» Und von der Liebe . So ist es«, sagte der Mann wie zu sich selbst. »Auch in meinem Leben gab es Menschen, die ich
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