1Q84: Buch 1&2
nicht, aber sie hatte sich nicht in der Gewalt. Gern hätte sie einen Lachanfall vorgetäuscht, aber auch das stand nicht in ihrer Macht.
»Ihr seid sozusagen mit demselben Zug hierhertransportiert worden«, sagte der Mann mit ruhiger Stimme. »Indem Tengo sich mit meiner Tochter zusammengetan hat, hat er die Little People herausgefordert. Und du willst mich – wenn auch aus anderen Gründen – umbringen. Das heißt, ihr habt euch beide in große Gefahr begeben.«
»Steht irgendein Wille dahinter?«
»Wahrscheinlich.«
»Aber wozu dient das alles?« Nachdem sie es gesagt hatte, wurde Aomame klar, dass diese Frage völlig vergeblich war. Auf eine Antwort konnte sie nicht hoffen.
»Die schönste Lösung wäre es, wenn ihr beide euch irgendwo begegnen, an den Händen fassen und aus dieser Welt verschwinden könntet«, sagte der Mann, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Aber das ist nicht so einfach.«
»Das ist nicht so einfach«, wiederholte Aomame geistesabwesend.
»Gelinde ausgedrückt. Offen gesagt ist es leider unmöglich. Was euch entgegensteht, ist eine gewaltige Macht, wie auch immer man sie nennen will.«
»Also …«, sagte Aomame heiser. Und räusperte sich. Sie hatte sich wieder gefangen. Die Zeit ist noch nicht reif für Tränen, dachte sie. »Und jetzt machen Sie mir dieses Angebot. Als Gegenleistung für einen schmerzlosen Tod können Sie mir etwas geben. So etwas wie eine Alternative.«
»Du begreifst sehr schnell«, sagte der Mann, immer noch in Bauchlage. »Genau. Mein Vorschlag hat etwas mit dir und Tengo zu tun. Vielleicht ist er nicht gerade herzerfrischend, aber er lässt dir zumindest eine gewisse Wahl.«
»Die Little People haben Angst, mich zu verlieren«, erklärte der Leader. »Denn aus gewissen Gründen brauchen sie mich noch. Als ihr Stellvertreter bin ich von großem Nutzen für sie, und es ist nicht ganz leicht, Ersatz für mich zu finden. Im Moment steht noch kein Nachfolger bereit. Als ihr Repräsentant muss man eine Menge komplizierter Voraussetzungen erfüllen, und ich bin eines der seltenen Wesen, das all diesen Bedingungen genügt. Daher ihre Furcht. Sollten sie mich hier und jetzt vor der Zeit verlieren, entsteht eine Lücke. Deshalb wollen sie verhindern, dass du mich umbringst. Ich soll zumindest noch eine Weile am Leben bleiben. Die Donnerschläge sind Zeichen ihres Zorns, nichts als wütende Drohgebärden. Dir selbst können sie nichts tun. Deshalb haben sie wahrscheinlich mit ihren raffinierten Machenschaften deine Freundin in den Tod getrieben. Und genauso könnten sie auch Tengo irgendeinen Schaden zufügen.«
»Schaden? Wie denn?«
»Tengo hat eine Geschichte über die Little People und ihre Umtriebe geschrieben. Eriko hat den Stoff geliefert, und er hat ihn in einen eindrucksvollen Text verwandelt. Darin bestand die Zusammenarbeit der beiden. Diese Geschichte sollte als Antikörper gegen die von den Little People ausgelöste Bewegung fungieren. Sie wurde in Buchform veröffentlicht und zum Bestseller. Dadurch konnten, wenn auch nur vorläufig, die Machenschaften der Little People eingedämmt und mehrere Aktionen vereitelt werden. Vielleicht hast du den Titel schon mal gehört: Die Puppe aus Luft .«
Aomame nickte. »Mir sind ein paar Zeitungsartikel aufgefallen. Auch die Verlagsanzeige. Aber gelesen habe ich es nicht.«
»Faktisch geschrieben hat es Tengo. Dabei hat er in Erikos Welt mit den zwei Monden eine eigene Geschichte entdeckt und arbeitet inzwischen an einem neuen Roman. Eriko hat mit der Geschichte die Antikörper geweckt. Tengo selbst scheint über hervorragende Fähigkeiten als Receiver zu verfügen. Dadurch konnte er dich vielleicht mit hierhernehmen beziehungsweise dich veranlassen, in sein Fahrzeug zu steigen.«
Im Halbdunkel verzog Aomame heftig das Gesicht. Sie musste das, was der Mann sagte, unbedingt verstehen. »Das heißt, ich wurde durch Tengos erzählerische Fähigkeiten oder, mit Ihren Worten ausgedrückt, durch seine Macht als Receiver, in die Welt des Jahres 1Q84 transportiert?«
»Das ist zumindest meine Vermutung«, sagte der Mann.
Aomame betrachtete ihre Hände. Die Finger waren noch feucht von Tränen.
»Und wenn es so ist, wird Tengo mit großer Wahrscheinlichkeit getötet werden«, fuhr der Mann fort. »Im Augenblick ist er für die Little People zu einer großen Gefahr geworden. Schließlich ist diese Welt auch real. Echtes Blut wird vergossen, und echte Tode werden gestorben, die selbstverständlich endgültig
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