1Q84: Buch 1&2
sind.«
Aomame biss sich auf die Lippe.
»Überleg dir doch einmal Folgendes«, sagte der Mann. »Du tötest mich und versuchst, von hier zu verschwinden. Dann hätten die Little People keinen Grund mehr, Tengo ein Leid anzutun. Denn wenn ich als Verbindungsweg ausgelöscht bin, sind Tengo und meine Tochter, sosehr sie die Verbindung auch gestört haben mögen, keine Bedrohung mehr für sie. Die Little People werden von ihnen ablassen und fortgehen, um sich einen anderen Kanal zu suchen. Diese Suche wird dann ihre Priorität sein. Verstehst du?«
»Theoretisch ja«, sagte Aomame.
»Andererseits wird meine Gemeinschaft dich nicht einfach so ziehen lassen, wenn ich getötet werde. Vielleicht wird es eine Weile dauern, bis sie dich finden. Denn du wirst sicher deinen Namen ändern, deine Adresse und eventuell sogar dein Gesicht. Eines Tages jedoch werden sie dich aufspüren und streng bestrafen. Dieses rigorose, gewalttätige und unwiderrufliche System haben wir geschaffen. Das wäre die eine Alternative.«
Aomame überdachte, was der Mann gesagt hatte, und er wartete, bis die Logik des Ganzen zu ihr durchgedrungen war.
»Oder du willst mich nicht töten«, fuhr er fort. »Ziehst dich brav zurück, und ich bleibe am Leben. In diesem Fall werden die Little People mit aller Kraft versuchen, Tengo zu beseitigen, um mich als ihren Stellvertreter zu schützen. Der Schutz, unter dem er steht, ist nicht mehr so stark. Sie werden eine Schwachstelle finden und mit allen Mitteln versuchen, ihn zu vernichten. Denn sie können nicht dulden, dass sich noch mehr Antikörper ausbreiten. Du hingegen würdest dann keine Bedrohung mehr darstellen, und auch meine Leute hätten keinen Grund, dich zu bestrafen. Das wäre die andere Alternative.«
»In diesem Fall würde Tengo sterben, und ich würde überleben. In der Welt des Jahres 1Q84«, fasste Aomame die Ausführungen des Mannes zusammen.
»So ungefähr«, sagte er.
»In einer Welt zu leben, in der es Tengo nicht mehr gibt, hat für mich keinen Sinn. Denn ich hätte nie mehr die Möglichkeit, ihm zu begegnen.«
»Aus deiner Sicht trifft das wohl zu.«
Sich heftig auf die Lippe beißend, stellte Aomame sich diesen Zustand vor.
»Das sagen Sie . Sie können mir viel erzählen«, wandte sie ein. »Gibt es irgendeine Grundlage oder Garantie für die Glaubwürdigkeit Ihrer Aussage?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Du hast völlig recht. Es gibt keine. Aber du warst gerade Zeugin meiner außergewöhnlichen Kräfte. Die Tischuhr hängt an keinem Faden. Und sie ist ziemlich schwer. Du kannst hingehen und dich überzeugen. Nimm meinen Vorschlag an oder lass es sein, eins von beidem. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Aomames Blick wanderte zu der Uhr auf der Truhe. Die Zeiger standen auf kurz vor neun. Die Uhr selbst war ein wenig verrutscht und stand nun schräg. Schließlich hatte man sie gerade erst in die Luft gehoben und wieder fallenlassen.
»In diesem Jahr 1Q84 kann man offenbar nicht euch beiden helfen«, sagte der Mann. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Bei der einen stirbst wahrscheinlich du, und Tengo bleibt am Leben. Bei der anderen stirbt wahrscheinlich er, und du überlebst. Entweder oder. Keine angenehme Wahl, das habe ich dir ja schon am Anfang gesagt.«
»Aber eine dritte Alternative existiert nicht.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Zum jetzigen Zeitpunkt kannst du dich nur für eine von diesen beiden entscheiden.«
Langsam stieß Aomame ihren angehaltenen Atem aus.
»Es tut mir leid für dich«, sagte der Mann. »Wärst du im Jahr 1984 geblieben, müsstest du diese Entscheidung nicht treffen. Andererseits hättest du dann nie erfahren, dass Tengo dich niemals vergessen hat. Durch deine Reise ins Jahr 1Q84 hast du zumindest erfahren, dass eure Herzen in gewissem Sinn verbunden sind.«
Aomame schloss die Augen. Nicht weinen, dachte sie. Dazu ist die Zeit noch nicht gekommen.
»Hat Tengo wirklich Sehnsucht nach mir? Sie könnten doch auch die Unwahrheit behaupten.«
»Tengo hat nie eine andere Frau als dich geliebt. Das ist Tatsache.«
»Trotzdem hat er mich nicht gesucht.«
»Du hast doch auch nicht versucht, ihn zu finden. Oder doch?«
Aomame schloss die Augen. Für einen Moment sah sie auf die vielen Jahre zurück, die vergangen waren, ließ ihren Blick darüberschweifen. Als würde sie auf einen Hügel steigen und von einer steilen Klippe auf eine Meerenge schauen. Sie konnte das Meer riechen. Und das tiefe Rauschen des Windes hören.
»Wir
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