1Q84: Buch 1&2
und das Hotel hinter sich gelassen hatte, stieß sie den lange angehaltenen Atem mit einem tiefen Seufzer aus. Sie schloss die Augen und verbannte alle Gedanken aus ihrem Kopf. Sie wollte eine Weile nicht denken.
Sie verspürte starke Übelkeit. Ihr gesamter Mageninhalt schien ihre Kehle hinaufzudrängen. Doch irgendwie gelang es ihr, ihn nach unten zu pressen. Sie betätigte den Fensterheber, ließ die Scheibe zur Hälfte herunter und sog die feuchte Nachtluft in ihre Lungen. In den Sitz gelehnt, atmete sie mehrmals tief durch. Sie hatte einen widerlichen Geschmack im Mund. Als würde irgendetwas in ihrem Inneren verfaulen. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie in einer Tasche ihrer Baumwollhose zwei Streifen Kaugummi hatte. Mit leicht zitternden Händen wickelte sie einen davon aus, steckte ihn in den Mund und begann langsam zu kauen. Spearmint. Ein altvertrauter Geschmack. Er schien ihre Nerven zu beruhigen. Beim Kauen ließ der ekelhafte Geschmack in ihrem Mund allmählich nach. Es verfault doch nichts in mir, dachte sie. Es ist nur die Angst, die mich verrückt macht.
Aber jedenfalls ist damit alles erledigt. Ich muss nie wieder einen Menschen töten. Und ich habe das Richtige getan. Der Tod dieses Mannes war ein völlig selbstverständliches Ereignis. Er hat nur seinen gerechten Lohn erhalten. Außerdem war es – zufällig – sein eigener innigster Wunsch zu sterben. Ich habe ihm den ersehnten leichten Tod gewährt. Ich habe nichts Falsches getan. Höchstens gegen das Gesetz verstoßen.
Doch sooft sie sich das auch wiederholte, völlig konnte sie sich nicht überzeugen. Sie hatte gerade mit bloßen Händen einen ungewöhnlichen Menschen getötet. Sie erinnerte sich noch deutlich, wie es sich angefühlt hatte, die Spitze der Nadel in den Nacken des Mannes zu treiben. Sie hatte eine ungewöhnliche Reaktion dabei empfunden, die sie nicht wenig verstört hatte. Sie breitete ihre Handflächen aus und betrachtete sie. Irgendetwas war anders. Ganz anders als sonst. Doch was es war, konnte sie nicht herausfinden.
Wenn sie den Worten des Mannes Glauben schenkte, hatte sie einen Propheten getötet. Einen Hüter göttlicher Stimmen. Aber der Bewahrer dieser Stimmen war selbst kein Gott. Wahrscheinlich war er ein Werkzeug der Little People. Der Prophet war zugleich ein König gewesen, und Königen war es bestimmt, getötet zu werden. Und sie, die Attentäterin, war die Hand des Schicksals. Und indem sie dieses Wesen, das König und Prophet zugleich gewesen war, gewaltsam ausgelöscht hatte, hatte sie für ein Gleichgewicht von Gut und Böse auf der Welt gesorgt. Und musste ebenfalls sterben. Aber sie hatte einen Tauschhandel abgeschlossen. Dadurch, dass sie den Mann tötete und damit praktisch ihr Leben aufgab, rettete sie Tengo. Das war die Abmachung. Wenn sie an das glaubte, was der Mann gesagt hatte .
Aber letzten Endes musste Aomame ihm glauben. Er war kein Betrüger, und Menschen, die den Tod vor Augen haben, lügen nicht. Vor allem seine Worte hatten sie überzeugt. Ihre Überzeugungskraft wog schwer wie ein großer Anker. Jedes Schiff hatte einen Anker, der seiner Größe und seinem Gewicht entsprach. Welche schaurigen Taten der Mann auch begangen haben mochte, er war ein sehr großes Schiff gewesen. Das musste Aomame ihm zugestehen.
Sie zog die Heckler & Koch unsichtbar für den Fahrer aus dem Hosenbund, sicherte sie und verstaute sie in dem Beutel. Eine massive, ungefähr 500 Gramm schwere, tödliche Last fiel von ihr ab.
»Das war ja ein schlimmes Unwetter. Es hat in Strömen gegossen«, sagte der Fahrer.
»Das Gewitter?«, sagte Aomame. Es schien ihr sehr lange zurückzuliegen, obwohl es nicht mehr als dreißig Minuten sein konnten. »Ja, wirklich. Ein unglaubliches Gewitter.«
»Der Wetterbericht hatte es überhaupt nicht angekündigt. Es hieß sogar, es würde den ganzen Tag die Sonne scheinen.«
Aomame überlegte hektisch. Sie musste etwas sagen. Aber ihr fiel nichts Passendes ein. Anscheinend arbeitete ihr Verstand nur noch sehr langsam. »Die Wettervorhersage war falsch«, sagte sie.
Der Fahrer streifte Aomame mit einem Blick in den Rückspiegel. Vielleicht wirkte ihre Art zu sprechen irgendwie unnatürlich auf ihn. »Das Wasser soll bei Akasaka-mitsuke von der Straße in die U-Bahn-Station geflossen sein und die Schienen überflutet haben«, erzählte der Fahrer. »Weil die Regenmenge an engen Stellen nicht ablaufen konnte. Die Ginza- und die Marunouchi-Linie wurden zeitweise eingestellt. Sie
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