1Q84: Buch 1&2
griffbereit war. Ich darf mich nicht in Sicherheit wiegen, dachte sie. Und ich darf keine Angst haben. Denn Angst zeigt sich im Gesicht und erregt Verdacht.
Aomame machte sich auf das Schlimmste gefasst und verließ unter äußerster Wachsamkeit das Bad. Die Sporttasche trug sie in der linken Hand, um mit der rechten sofort die Pistole ziehen zu können. Doch im Zimmer hatte sich nichts verändert. In der Mitte stand mit verschränkten Armen und nachdenklichem Blick der Kahlkopf. Der mit dem Pferdeschwanz saß noch immer auf dem Stuhl neben der Tür und schaute gelassen in den Raum. Seine Augen wirkten ruhig, wie die eines Maschinengewehrschützen in einem Jagdbomber. Er war daran gewöhnt, allein zu sein und in den blauen Himmel zu blicken. Seine Augen waren mit der Farbe dieses Himmels getränkt.
»Sie müssen erschöpft sein«, sagte der Kahle. »Möchten Sie vielleicht einen Kaffee? Wir haben auch Sandwiches.«
»Danke«, sagte Aomame. »Aber nein danke. Direkt nach der Arbeit habe ich keinen Appetit. Der Hunger kommt erst in etwa einer Stunde.«
Der Kahle nickte und zog einen dicken Umschlag aus einer Tasche seines Jacketts. Er wog ihn kurz in der Hand und reichte ihn Aomame.
»Entschuldigen Sie, aber es ist etwas mehr als das vereinbarte Honorar. Wie ich bereits sagte, bitten wir Sie, absolutes Stillschweigen über die heutigen Ereignisse zu bewahren.«
»Aha, Schweigegeld also?«, sagte Aomame scherzhaft.
»Es ist für besondere Aufwendungen«, erklärte der Mann, ohne zu lächeln.
»Meine Diskretion hat nichts mit Geld zu tun. Sie ist Teil meines Berufs. Es wird nichts nach außen dringen«, sagte Aomame und schob den Umschlag, so wie sie ihn bekommen hatte, in die Sporttasche. »Brauchen Sie eine Quittung?«
Der Kahle schüttelte den Kopf. »Nein. Das bleibt unter uns. Sie brauchen es nicht zu versteuern.«
Aomame nickte schweigend.
»Sie haben sicher viel Kraft gebraucht«, erkundigte sich der Kahle lauernd.
»Mehr als sonst«, sagte sie.
»Das liegt daran, dass er kein gewöhnlicher Mensch ist.«
»Es scheint so.«
»Er ist unersetzlich«, sagte er. »Und er leidet seit langem unter diesen starken Schmerzen. Er nimmt sozusagen unsere Leiden und Schmerzen auf sich. Ich hoffe, dass Sie sie zumindest ein wenig lindern konnten.«
»Da ich die Ursache für seine Beschwerden nicht kenne, kann ich nichts Genaues sagen«, antwortete Aomame vorsichtig. »Aber ich glaube schon, dass ich sie ein bisschen lindern konnte.«
Der Kahle nickte. »Wenn ich Sie mir so ansehe, wirken Sie auch recht erschöpft.«
»Das ist gut möglich«, sagte Aomame.
Der Pferdeschwanz saß während der ganzen Unterhaltung weiter an der Tür und behielt wortlos das Zimmer im Auge. Seine Miene war völlig unbewegt, nur sein Blick wanderte hierhin und dorthin. Er zeigte keinerlei Regung. Es war nicht zu erkennen, ob er dem Gespräch der beiden folgte oder nicht. Einsam, stumm und unendlich wachsam. Er suchte nach dem kleinsten Hinweis auf einen feindlichen Jagdbomber zwischen den Wolken. Und sei er nur stecknadelkopfgroß.
Nach kurzem Zögern wandte Aomame sich an den Kahlkopf. »Entschuldigen Sie, vielleicht ist das eine sehr dumme Frage, aber verstoßen Sie nicht gegen die Gebote Ihrer Gemeinschaft, wenn sie Kaffee trinken und Schinkensandwiches essen?«
Der Kahle drehte sich um und warf einen Blick auf das Tablett mit der Kaffeekanne und den Sandwiches auf dem Tisch. Dann stahl sich so etwas wie ein kleines Lächeln auf seine Lippen.
»In unserer Gemeinschaft existieren keine derartig strengen Vorschriften. Alkohol und Zigaretten sollen eigentlich nicht sein, und es gibt auch ein paar Verbote, die sexuelle Dinge betreffen. Aber was Nahrungsmittel angeht, sind wir vergleichsweise frei. Normalerweise essen wir sehr einfach, aber Kaffee und Schinkensandwiches gelten nicht als besonders verwerflich.«
Aomame nickte nur, ohne eine Meinung zu äußern.
»Wo viele Menschen zusammenkommen, braucht man natürlich ein paar Regeln. Aber wenn man den Blick zu stark auf Rituale richtet, verliert man rasch das eigentliche Ziel aus den Augen. Disziplin und Dogmen sind letztendlich nur Hilfskonstruktionen. Das Wichtige ist nicht der Rahmen, sondern das, was darin ist.«
»Und der Leader liefert den Inhalt, nicht wahr?«
»Ja. Er kann Dinge hören, die unsere Ohren nicht erreichen. Er ist ein besonderer Mensch.« Der Kahle sah Aomame noch einmal in die Augen. »Also, für heute vielen Dank. Der Regen scheint auch gerade aufgehört
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