1Q84: Buch 1&2
haben es gerade in den Nachrichten gebracht.«
Wegen der starken Regenfälle fuhren bestimmte U-Bahn-Linien nicht mehr. Würde das ihre Pläne beeinträchtigen? Aomame überlegte hastig. Ich fahre zum Bahnhof Shinjuku und hole meine Reise- und meine Umhängetasche aus dem Schließfach. Dann rufe ich Tamaru an und erhalte Anweisungen. Falls ich von Shinjuku aus die Marunouchi-Linie nehmen soll, könnte es problematisch werden. In spätestens zwei Stunden muss ich über alle Berge sein. Denn dann werden die beiden sich wundern, dass der Leader nicht aufwacht, und wahrscheinlich im Nebenzimmer nachschauen. Sobald sie entdecken, dass er seinen letzten Schnaufer getan hat, werden sie loslegen.
»Fährt die Marunouchi-Linie noch immer nicht?«, fragte Aomame den Fahrer.
»Tja, das weiß ich nicht. Soll ich die Nachrichten einschalten?«
»Ja, bitte.«
Nach Aussage des Leaders hatten die Little People das Unwetter herbeigeführt. Sie hatten den Regen an einem Engpass in Akasaka-mitsuke zusammenströmen lassen und so die U-Bahn gestoppt. Aomame schüttelte den Kopf. Vielleicht steckte dahinter eine Absicht. Die Dinge liefen nicht so glatt wie geplant.
Der Fahrer schaltete NHK ein. Musik ertönte. Eine Sondersendung mit japanischen Volksliedern, gesungen von japanischen Interpreten, die Mitte der sechziger Jahre populär gewesen waren. Aomame erinnerte sich verschwommen, dass sie diese Lieder als Kind im Radio gehört hatte. Sie empfand keinerlei Nostalgie. Eher stellten sich unangenehme Gedanken ein. Diese Melodien weckten Erinnerungen an Dinge, an die sie sich nicht erinnern wollte. Eine Weile ließ sie die Sendung geduldig über sich ergehen, aber alles Warten half nichts, es kam keine Meldung zur Lage in den U-Bahn-Stationen.
»Entschuldigen Sie, es ist nicht so wichtig, würden Sie das Radio wieder ausschalten?«, sagte sie. »Ich fahre auf alle Fälle mal zum Bahnhof Shinjuku und schaue mir an, wie es dort aussieht.«
Der Fahrer drehte das Radio ab. »Da ist bestimmt die Hölle los«, sagte er.
Er sollte recht behalten. Im und um den Bahnhof Shinjuku herum wimmelte es nur so von Menschen. Da die Bahnen der Marunouchi-Linie nicht fuhren, kamen die mit der Staatsbahn eintreffenden Umsteiger nicht weiter, und es herrschte ein unglaubliches Gedränge. Alle liefen aufgeregt in alle Richtungen durcheinander. Der Berufsverkehr war zwar vorbei, dennoch war es kein leichtes Unterfangen, sich durch die Menschenmassen zu kämpfen.
Endlich erreichte Aomame ihr Schließfach und nahm ihre Umhängetasche und die schwarze kunstlederne Reisetasche heraus, in der sich das Bargeld aus ihrem Bankschließfach befand. Sie holte ein paar Sachen aus ihrer Sporttasche und verteilte sie auf Reise- und Umhängetasche: den Umschlag mit dem Geld, den der Kahle ihr gegeben hatte, den Plastikbeutel mit der Pistole und das Hartschalenetui mit dem Eispick. Die überflüssig gewordene Nike-Sporttasche packte sie in ein nahes Schließfach, warf eine Hundert-Yen-Münze ein und schloss ab. Sie hatte nicht die Absicht, sie wieder abzuholen. Es war nichts mehr darin, aus dem man ihre Identität hätte ableiten können.
Die Reisetasche in der Hand, machte sie sich auf die Suche nach einem öffentlichen Telefon. Sämtliche Telefone im Bahnhof waren belagert. Lange Schlangen von Leuten, die ihren Angehörigen ihre wegen der nicht verkehrenden Bahnen verspätete Heimkehr ankündigen wollten, reihten sich vor den Apparaten. Aomame verzog leicht das Gesicht. Anscheinend wollen die Little People mich nicht so leicht davonkommen lassen, dachte sie. Wenn es stimmt, was der Leader gesagt hat, haben sie nicht die Macht, direkt Hand an mich zu legen. Aber sie können meine Pläne mit anderen Mitteln durchkreuzen.
Aomame gab das Warten in der Telefonschlange auf, verließ den Bahnhof, lief ein wenig herum, entdeckte ein Café, ging hinein und bestellte einen Eiskaffee. Das rosafarbene Telefon war zwar besetzt, aber wenigstens stand sonst niemand an. Aomame stellte sich hinter die Frau in mittleren Jahren und wartete, dass diese ihr langes Gespräch beendete. Die Frau warf ihr einen gereizten und pikierten Blick zu, legte aber, nachdem sie noch weitere fünf Minuten geredet hatte, ergeben auf.
Aomame warf ihr ganzes Kleingeld ein und wählte die auswendig gelernte Nummer. Nach dreimaligem Rufzeichen ertönte eine mechanische Tonbandstimme: »Wir sind leider nicht zu Hause. Bitte hinterlassen Sie nach dem Signal eine Nachricht.«
Das Signal ertönte, und
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