1Q84: Buch 1&2
Stadtplan hervor, hielt an, schaltete den Taxameter ab, suchte nach der Adresse und fuhr sie direkt vor das Haus. Aomame bedankte sich und stieg aus. Es war ein fünfstöckiges elegantes, neues Gebäude, mitten in einem Wohnviertel. Am Eingang war niemand zu sehen. Aomame gab 2831 ein, das automatische Schloss entriegelte sich, und die Tür ging auf. Mit dem kleinen, aber sehr sauberen Aufzug fuhr sie in den zweiten Stock. Als sie ausstieg, sah sie als Erstes nach, wo sich Notausgang und Treppe befanden. Sie löste den mit Klebeband befestigten Schlüssel von der Fußmatte, schloss auf und betrat die Wohnung. Beim Öffnen der Tür schaltete sich automatisch die Flurbeleuchtung ein. Es herrschte der charakteristische Geruch neuer Gebäude. Möbel und Elektrogeräte waren offenbar auch nagelneu und wiesen keine Gebrauchsspuren auf. Wahrscheinlich hatte man sie gerade erst aus dem Karton befreit und die Plastikfolie entfernt. Es sah aus, als sei jemand in einen Designerladen gegangen und habe alles in einem Schwung gekauft, um damit eine Musterwohnung einzurichten. Alle Gegenstände waren schlicht und funktional, aber nichts Lebendiges ging von ihnen aus.
Links vom Eingang lagen Ess- und Wohnbereich. Ein Flur führte zu Toilette und Bad. Dahinter lagen zwei Schlafzimmer. In dem einen stand ein schon bezogenes französisches Bett. Die Jalousien waren heruntergelassen. Wenn man das Fenster zur Straße öffnete, ertönte wie fernes Meeresrauschen der Verkehrslärm auf der Ringstraße 7. Bei geschlossenem Fenster war so gut wie nichts zu hören. Vom Wohnzimmer ging ein kleiner Balkon ab, von dem man, durch eine Straße getrennt, auf einen kleinen Park mit Schaukeln, einer Rutschbahn, einem Sandkasten und öffentlichen Toiletten blickte. Eine hohe Quecksilberlaterne ließ die Umgebung unnatürlich hell erscheinen. Ein großer Keyakibaum breitete seine Äste über dem Spielplatz aus. Das Apartment lag im zweiten Stock, aber in der näheren Umgebung gab es keine hohen Gebäude, sodass sie keine unerwünschten Blicke zu fürchten hatte.
Aomame dachte an die billige Wohnung in Jiyugaoka, die sie vor kurzem verlassen hatte. Das Haus war ziemlich alt und nicht gerade sauber gewesen, hin und wieder hatte es Kakerlaken gegeben. Ganz zu schweigen von den dünnen Wänden. Sie konnte wirklich nicht behaupten, dass sie daran gehangen hatte. Aber jetzt sehnte sie sich dorthin zurück. In dem sterilen anonymen Apartment, in dem alles nagelneu war, fühlte sie sich wie ein Mensch ohne Namen, dem man sein Gedächtnis und seine Individualität geraubt hatte.
Sie öffnete den Kühlschrank. In der Tür standen vier kalte Dosen Heineken. Aomame riss eine davon auf und nahm einen Schluck. Sie schaltete den Fernseher mit dem 21-Zoll-Bildschirm ein und setzte sich davor, um sich die Nachrichten anzuschauen. Es wurde über das Gewitter und die ungewöhnliche Konzentration des Regens berichtet. Wichtigste Meldung war die Überflutung der Station Akasaka-mitsuke und der Ausfall der Linien Marunouchi und Ginza. Die Regenmassen waren wasserfallartig die Stufen zum Bahnhof hinuntergeflossen. In Ölzeug gehüllte Bahnbeamte hatten Sandsäcke vor die Eingänge gepackt, aber es war bereits zu spät gewesen. Der U-Bahn-Verkehr musste eingestellt werden, Aussicht auf Weiterfahrt bestand nicht. Ein Reporter hielt auf ihrer Heimfahrt gestrandeten Passanten sein Mikrofon unter die Nase und fragte sie nach ihrer Meinung. Einige beschwerten sich, dass der Wetterbericht am Morgen einen völlig klaren Tag angekündigt habe.
Aomame sah sich die Sendung bis ganz zu Ende an, aber der Tod des Vorreiter-Oberhaupts wurde natürlich nicht erwähnt. Die beiden Leibwächter warteten wahrscheinlich noch im Nebenzimmer, dass die zwei Stunden vergingen. Erst dann würden sie die Wahrheit erfahren. Sie nahm den Beutel aus ihrer Reisetasche, zog die Heckler & Koch hervor und legte sie auf den Esstisch. Die in Deutschland hergestellte Pistole wirkte seltsam stumm und brutal. Und so unendlich schwarz. Doch immerhin schien sie in der sterilen, stereotypen Wohnung einen gewissen Punkt der Intensität zu schaffen. »Szene mit Automatikpistole«, murmelte Aomame. Ein guter Titel für ein Gemälde. Jedenfalls musste sie die Waffe von nun an immer bei sich tragen. Sie stets griffbereit haben. Um jederzeit sich selbst oder einen anderen erschießen zu können.
Mit den Lebensmitteln, die in dem großen Kühlschrank bereitgestellt waren, konnte sie notfalls etwa einen halben Monat
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