1Q84: Buch 1&2
eine Vorahnung oder eine Art Vorgefühl nennen. Auf alle Fälle stimmt hier etwas nicht. Etwas ist nicht normal. Das spüre ich, nicht im Kopf, sondern im Bauch.«
»Du hast dich mit Fukaeri getroffen und dich dann so gefühlt?«
»Ja. Fukaeri ist wahrscheinlich authentisch. Aber auch das ist natürlich nur meine Intuition.«
»Meinst du, sie hat echtes Talent?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich habe sie ja gerade erst kennengelernt«, antwortete Tengo. »Nur sieht sie vielleicht etwas, das wir nicht sehen. Hat vielleicht irgendetwas Besonderes. Das beschäftigt mich irgendwie.«
»Ist sie verrückt?«
»Sie hat etwas Exzentrisches, aber ich glaube nicht, dass sie richtig verrückt ist. Was sie sagt, klingt im Großen und Ganzen sinnvoll«, sagte Tengo. Er machte eine kurze Pause. »Nur ist da irgendetwas, das mich irritiert.«
»Wie dem auch sei, menschlich ist sie jedenfalls an dir interessiert«, sagte Komatsu.
Tengo suchte nach passenden Worten, aber er fand keine. »So weit reicht meine Kenntnis nicht«, erwiderte er.
»Sie trifft sich mit dir, und du hast zumindest die Erlaubnis, ›Die Puppe aus Luft‹ zu überarbeiten. Das heißt doch letztendlich, dass sie dich mag. Wirklich, eine gute Leistung, Tengo, alter Freund. Was jetzt kommt, weiß ich auch nicht. Natürlich ist es ein Risiko. Aber Gefahr ist die Würze des Lebens. Du machst dich jetzt sofort an die Bearbeitung von ›Die Puppe aus Luft‹. Die Zeit drängt. Wir müssen das redigierte Manuskript so schnell wie möglich in den Stapel der eingereichten zurücklegen. Mit dem Original vertauschen. Meinst du, du schaffst es in zehn Tagen?«
Tengo stöhnte. »Das ist hart.«
»Es muss ja keine endgültige Version sein. In der nächsten Phase kannst du immer noch ein bisschen daran feilen. Es reicht, wenn du eine vorläufige Fassung erstellst.«
Tengo überschlug grob im Kopf, wie lange er brauchen würde. »In zehn Tagen müsste ich es eigentlich schaffen können. Auch wenn es schwer wird.«
»Also dann los, ans Werk!«, rief Komatsu aufgeräumt. »Du betrachtest die Welt mit ihren Augen. Du wirst der Mittler, du verknüpfst Fukaeris Welt mit der wirklichen Welt. Du kannst das, Tengo. Ich –«
An dieser Stelle gingen Tengo die Zehn-Yen-Münzen aus.
KAPITEL 5
Aomame
Ein Beruf, für den man Fachkenntnisse
und Erfahrung braucht
Nachdem Aomame ihren Auftrag ausgeführt hatte, ging sie ein Stück zu Fuß. Schließlich winkte sie ein Taxi heran und fuhr in ein Hotel in Akasaka. Ehe sie nach Hause zurückkehrte, um zu schlafen, musste sie ihre angespannten Nerven mit einem Drink beruhigen. Immerhin hatte sie gerade einen Mann ins Jenseits befördert . Er war zwar eine Ratte, die sich nicht beschweren konnte, wenn sie ermordet wurde, aber ein Mensch blieb doch ein Mensch. Unter ihren Händen war ein Leben erloschen, und dieses Gefühl haftete ihnen noch an. Ein letztes Aushauchen, und die Seele hatte den Körper verlassen.
Aomame war schon mehrmals in dieser Hotelbar gewesen. Sie lag im obersten Stockwerk eines Hochhauses, hatte eine großartige Aussicht und eine angenehme Atmosphäre.
Als sie die Bar betrat, war es kurz nach sieben. Ein junges Duo an Klavier und Gitarre spielte »Sweet Lorraine«. Sie orientierten sich hörbar an einer alten Aufnahme von Nat King Cole, machten ihre Sache aber gar nicht schlecht. Wie immer setzte Aomame sich an die Bar und bestellte einen Gin Tonic und ein Schälchen Pistazien. Noch konnte sie die Gäste zählen. Ein junges Paar, das in die Aussicht versunken seine Cocktails trank. Vier Männer in Anzügen, offenbar bei einer geschäftlichen Besprechung. Ein ausländisches Ehepaar mittleren Alters, beide hielten Martini-Gläser in der Hand. Aomame ließ sich Zeit mit ihrem Gin Tonic. Sie wollte nicht gleich betrunken werden. Die Nacht war noch lang.
Sie nahm ein Buch aus ihrer Umhängetasche und begann zu lesen. Es handelte von der Mandschurischen Eisenbahn in den dreißiger Jahren. Die Mandschurische Eisenbahn (eigentlich die Südmandschurische Eisenbahn-Aktiengesellschaft) war 1906 nach dem Ende des Russisch-Japanischen Krieges gegründet worden. Der südliche Teil der Eisenbahnstrecke befand sich seither unter japanischer Kontrolle. Die russische Spurweite wurde den japanischen Bedürfnissen entsprechend umgestellt, die Schienenstrecke rapide ausgebaut. Die Südmandschurische Eisenbahngesellschaft, die sozusagen die Speerspitze des japanischen Kaiserreichs bei der Besetzung Chinas gewesen war, wurde 1945
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