1Q84: Buch 1&2
von der Sowjetarmee aufgelöst. Bis Deutschland im Jahr 1941 den Krieg gegen Russland eröffnete, war die Strecke mit der Sibirischen Eisenbahn verbunden, und man konnte in dreizehn Tagen von Shimonoseki nach Paris reisen.
Eine junge Frau im Kostüm, die, eine große Umhängetasche neben sich, in einer Hotelbar einen Drink nahm und ein (gebundenes) Buch über die Mandschurische Eisenbahn las, würde wahrscheinlich nicht so leicht für eine bestellte Edelprostituierte gehalten werden, auch wenn sie allein war. Dachte Aomame. Allerdings wusste sie nicht genau, wie eine echte Edelprostituierte aussah. Diejenigen, deren Kundschaft aus erfolgreichen Geschäftsmännern bestand, bemühten sich vermutlich auch um ein seriöses Äußeres, um nicht aus der Bar geworfen zu werden oder die Freier nicht zu verunsichern. Trugen vielleicht ein Kostüm von Junko Shimada mit einer weißen Bluse, kein Make-up, hatten eine große praktische Umhängetasche bei sich und lasen in Büchern über die Mandschurische Eisenbahn. Wenn man es so betrachtete, unterschied sich Aomames Verhalten nicht substantiell von dem einer Prostituierten, die auf Kundschaft wartete.
Mit der Zeit fanden sich immer mehr Gäste ein. Unversehens erfüllte Stimmengewirr den Raum. Doch der Typ Gast, nach dem Aomame Ausschau hielt, hatte sich noch nicht blicken lassen. Aomame nahm einen weiteren Gin Tonic, bestellte in Streifen geschnittene Rohkost (sie hatte noch nicht zu Abend gegessen) und las weiter in ihrem Buch. Wenig später erschien ein Mann und setzte sich an die Bar. Er war nicht in Begleitung. Seine Haut war leicht gebräunt, und er trug einen teuren blaugrauen Maßanzug. Die Krawatte war auch nicht schlecht gewählt. Nicht zu auffällig, nicht zu schlicht. Er mochte um die fünfzig Jahre alt sein und hatte ziemlich schütteres Haar. Eine Brille trug er nicht. Wahrscheinlich war er auf Geschäftsreise in Tokio, hatte seine Termine erledigt und wollte sich vor dem Schlafengehen noch ein Glas genehmigen. Wie Aomame. Dem Körper genügend Alkohol zuführen, um die angespannten Nerven zu beruhigen.
Der größte Teil der Geschäftsleute, die dienstlich nach Tokio kamen, übernachtete nicht in Luxushotels wie diesem, sondern in den preisgünstigeren Business-Hotels in Bahnhofsnähe, in denen die Zimmer so klein waren, dass das Bett fast den ganzen Raum einnahm. Durch das Fenster sah man auf die Mauer des Nachbargebäudes, und man konnte nicht duschen, ohne sich ungefähr zwanzigmal die Ellbogen anzustoßen. In jedem Stockwerk standen Getränkeautomaten und solche für Kosmetikartikel auf dem Gang. Diese Leute bekamen entweder von Anfang an nur diesen Spesenbetrag, oder sie wollten durch die Übernachtung in einem Billighotel einen Teil der Spesen sparen und in die eigene Tasche stecken. Sie tranken in einer benachbarten Kneipe ein Bier und gingen schlafen. Zum Frühstück aßen sie im Gyudonya nebenan eine Schale Rindfleisch auf Reis.
Die Gäste in diesem Hotel gehörten jedoch einer ganz anderen Kategorie an. Wenn sie nach Tokio kamen, reisten sie nur in der Ersten Klasse, im Green Car und dem Superexpress und übernachteten in teuren Hotels. Nach der Arbeit gingen sie zur Entspannung in die Hotelbar und gönnten sich edle Getränke. Die meisten hatten eine leitende Position in einer großen, erfolgreichen Firma. Oder sie waren selbstständige Unternehmer, Ärzte, Anwälte. Sie hatten das mittlere Alter erreicht und waren einen recht freien Umgang mit Geld gewohnt. Auf diesen Typ hatte Aomame es abgesehen.
Schon als sie kaum zwanzig Jahre alt war, hatte sie sich zu älteren Männern mit schütterem Haar hingezogen gefühlt – warum, hätte sie selbst nicht zu sagen gewusst. Besser als vollständige Kahlheit gefiel es ihr, wenn ihnen noch etwas Haar geblieben war. Es genügte allerdings nicht, wenn das Haar einfach nur schütter war. Hatte der Mann keine schöne Kopfform, ging gar nichts. Ihr Ideal war Sean Connery. Sie fand seinen zurückweichenden Haaransatz und die Form seines Kopfes unglaublich schön und sexy. Allein dieser Anblick verursachte ihr Herzklopfen. Die Kopfform des Mannes, der zwei Hocker von ihr entfernt an der Bar Platz genommen hatte, war auch nicht übel. Natürlich kein Vergleich zu Sean Connery, aber immerhin hatte er eine gewisse Ausstrahlung. Sein Haaransatz war weit hinter die Stirn zurückgewichen, und das verbliebene Haar erinnerte an eine reifbedeckte Wiese im Spätherbst. Aomame schaute kurz von ihrem Buch auf, um den Kopf des
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