1Q84: Buch 1&2
freute. Auch dass sie in ein spontanes Lächeln ausbrach oder ihre Züge sich verfinsterten, konnte er sich nicht vorstellen. Ihr Gesicht war immer so ausdruckslos. Tengo war sich nicht im Klaren, ob es daran lag, dass sie von vornherein keine Gefühle hatte, oder ob es sich so verhielt, dass sie zwar Gefühle hatte, diese jedoch nicht durch ihre Mimik zum Ausdruck brachte. Jedenfalls ist sie ein sonderbares Mädchen, dachte Tengo zum soundsovielten Mal.
Die Heldin von »Die Puppe aus Luft« war möglicherweise Fukaeri selbst. Das zehnjährige Mädchen lebte in einer gewissen Kommune (oder etwas Ähnlichem) in den Bergen, und man hatte ihm die Aufgabe erteilt, eine blinde Ziege zu hüten. Jedes Kind hatte eine bestimmte Aufgabe. Die Ziege war schon alt, besaß aber eine besondere Bedeutung für die Gemeinschaft, und es durfte ihr auf keinen Fall ein Leid geschehen. Dem Mädchen hatte man befohlen, sie nicht einen Moment aus den Augen zu lassen. Aber es passte nicht auf, und die Ziege starb. Das Mädchen wurde dafür bestraft, indem man es gemeinsam mit dem toten Tier in einen Speicher sperrte. Zehn Tage lang war es völlig isoliert und durfte den Speicher nicht verlassen. Ebenso war es ihm verboten, mit irgendjemandem zu sprechen.
Die Ziege diente den »Little People« als Zugang zu dieser Welt. Ob die Little People gut oder böse waren, wusste das Mädchen nicht. (Und Tengo selbstverständlich auch nicht.) Wenn es Nacht wurde, kamen die Little People durch das Maul der toten Ziege in diese Welt. Sobald der Morgen kam, kehrten sie in die andere Welt zurück. Das Mädchen konnte mit den Little People sprechen. Sie brachten ihm bei, wie man eine Puppe aus Luft spinnt.
Tengo war beeindruckt, wie konkret und bis ins kleinste Detail die Gewohnheiten und Bewegungen der blinden Ziege geschildert waren. Diese Einzelheiten verliehen der Geschichte große Lebendigkeit. Hatte Fukaeri tatsächlich schon einmal eine blinde Ziege gehütet? Und wirklich in einer Kommune in den Bergen gelebt? Tengo nahm es an. Falls Fukaeri all dies nicht selbst erlebt hatte, war ihr ein außergewöhnliches erzählerisches Talent in die Wiege gelegt worden.
Tengo nahm sich vor, Fukaeri das nächste Mal, wenn er sie sah (und das würde am Sonntag sein), nach der Ziege und der Kommune zu fragen. Natürlich wusste er nicht, ob er eine Antwort erhalten würde. Nach ihrem ersten Gespräch zu schließen, beantwortete sie anscheinend nur Fragen, auf die sie auch antworten wollte. Die anderen ignorierte sie einfach. Beinahe als hätte sie sie nicht gehört. Wie Komatsu. Darin konnten sie sich die Hand reichen. Tengo war ganz anders. Ihn konnte man fragen, was man wollte, er gab gewissenhaft und aufrichtig Antwort. Vielleicht war so etwas angeboren.
Gegen halb sechs bekam er einen Anruf von seiner verheirateten Freundin.
»Was hast du heute gemacht?«, fragte sie.
»Ich habe den ganzen Tag geschrieben«, erwiderte Tengo, was nur zum Teil der Wahrheit entsprach. Denn er hatte ja nicht an seinem Roman geschrieben, wie seine Antwort suggerierte. Aber er sah keinen Grund, ihr das ausführlich zu erklären.
»Kommst du voran?«
»Einigermaßen.«
»Tut mir leid, dass ich heute so plötzlich absagen musste. Nächste Woche können wir uns bestimmt sehen.«
»Ich freue mich schon«, sagte Tengo.
»Ich mich auch«, sagte sie.
Dann sprach sie mit ihm über ihre Kinder. Das tat sie oft. Sie hatte zwei kleine Töchter. Tengo hatte keine Geschwister und natürlich auch keine Kinder. Deshalb kannte er sich auf diesem Gebiet nicht so gut aus, aber das störte sie nicht. Tengo war kein Mensch, der von sich aus viel redete, aber er hörte stets interessiert zu. Das ältere Mädchen war in der zweiten Klasse und wurde, wie Tengos Freundin erzählte, in der Schule gehänselt. Das Kind selbst hatte ihr nichts davon gesagt, aber sie hatte es von anderen Müttern erfahren. Natürlich kannte Tengo die Kleine nicht, er hatte nur einmal ein Foto von ihr gesehen. Sie hatte kaum Ähnlichkeit mit ihrer Mutter.
»Warum wird sie gehänselt?«, fragte Tengo.
»Sie bekommt Asthmaanfälle und kann beim Turnen nicht richtig mitmachen. Vielleicht deshalb. Sie ist ein schüchternes, braves Kind und auch nicht schlecht in der Schule.«
»Nicht zu fassen«, sagte Tengo. »Ein Kind, das Asthma hat, sollte man beschützen, statt es zu quälen.«
»In der Welt der Kinder geht es nicht so einfach zu«, sagte sie und seufzte. »Meist genügt es schon, anders zu sein als die anderen,
Weitere Kostenlose Bücher