1Q84: Buch 1&2
Samstagnachmittag gegen ein Uhr besuchte Aomame die »Weidenvilla«. Das Gebäude war dicht von alten Weiden umstanden, die die Mauer überragten und bei jeder Brise lautlos hin und her schwankten wie eine Schar von Geistern, die nicht wussten, wohin sie gehörten. Daher nannten die Nachbarn das alte, im westlichen Stil erbaute Anwesen von jeher ganz selbstverständlich die Weidenvilla. Sie lag am oberen Ende eines steilen Hangs in Azabu. In den Kronen der Weiden saßen zierliche Vögel. An einem sonnigen Fleckchen auf dem Dach nahm eine große Katze mit halb geschlossenen Augen ein Sonnenbad. Die umgebenden Straßen waren so eng und kurvig, dass kaum je ein Auto hindurchfuhr. Überall standen große Bäume und Sträucher, sodass es dort selbst um die Mittagszeit schattig war. Sobald man diesen Winkel betrat, hatte man das Gefühl, der Lauf der Zeit verlangsame sich ein wenig. In diesem Viertel hatten mehrere Botschaften ihren Sitz, aber Publikumsverkehr gab es kaum. Für gewöhnlich herrschte absolute Stille, doch dieser Zustand änderte sich im Sommer, wenn die Zikaden ohrenbetäubend schrillten.
Aomame drückte auf die Klingel am Tor und sagte ihren Namen in die Gegensprechanlage. Sie lächelte verhalten in die Kamera über ihrem Kopf. Langsam und automatisch öffnete sich das eiserne Tor. Als Aomame eingetreten war, schlossen sich die Flügel hinter ihr. Wie immer durchquerte sie den Garten zum Eingangsbereich des Hauses. Im Wissen, dass sie gefilmt wurde, schritt sie mit geradem Rücken und eingezogenem Kinn wie ein Model den Weg entlang. Aomames Aufmachung war heute sportlich. Sie trug einen dünnen dunkelblauen Anorak, eine graue Segeljacke, Blue Jeans und weiße Basketballschuhe. Über ihrer Schulter hing die bewusste Umhängetasche. Ihren Eispick hatte sie heute nicht dabei. Wenn sie ihn nicht brauchte, lag er in einer Schublade ihrer Kommode.
Vor dem Eingang standen Gartenstühle aus Teakholz. In einem von ihnen saß ein sehr aufmerksam wirkender, kräftiger Mann. Er war nicht besonders groß, aber man konnte erkennen, dass sein Oberkörper erstaunlich muskulös war. Er war um die vierzig, trug die Haare rasiert, und unter seiner Nase spross ein gepflegter Schnurrbart. Zu seinem grauen Anzug mit Schulterpolstern trug er ein schneeweißes Hemd, eine dunkelgraue Seidenkrawatte und ein makelloses Paar Schuhe aus schwarzem Cordovan. Silberner Ohrschmuck zierte beide Ohren. Er sah nicht gerade aus, als sei er Finanzbeamter oder Vertreter für Kfz-Versicherungen. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein Bodyguard, was auch tatsächlich sein Beruf war. Hin und wieder übernahm er auch die Rolle des Chauffeurs. Er besaß einen Schwarzen Gürtel in Karate und konnte, wenn es nötig war, auch mit einer Waffe umgehen. Er wusste sich zu wehren und konnte brutaler werden als jeder andere. Für gewöhnlich war er jedoch sanft, gelassen und klug. Wer ihm länger in die Augen sah – sofern er dies gestattete –, konnte ein warmes Licht darin erkennen.
Sein Hobby war es, an allen möglichen Maschinen herumzubasteln. Außerdem sammelte er Progressive-Rock-Schallplatten der sechziger und siebziger Jahre. Tamaru – so hieß der Mann – lebte mit seinem gut aussehenden jungen Freund, einem Visagisten, in der gleichen Gegend von Azabu. Ob Tamaru sein Vor- oder sein Nachname war, wusste niemand. Auch nicht, mit welchen Zeichen er sich schrieb. Doch alle nannten ihn Tamaru.
Tamaru blickte Aomame von seinem Stuhl entgegen und nickte.
»Hallo«, sagte sie und setzte sich auf einen Stuhl ihm gegenüber.
»In einem Hotel in Shibuya soll ein Mann ums Leben gekommen sein«, sagte Tamaru, während er den Glanz seiner Cordovan-Schuhe inspizierte.
»Wusste ich gar nicht«, sagte Aomame.
»Es stand auch nicht in der Zeitung. Anscheinend ein Herzanfall. Traurig, wo er doch gerade mal über vierzig war.«
»Er hat nicht auf sein Herz geachtet.«
Tamaru nickte. »Auf seine Lebensgewohnheiten sollte man achten. Ein unsolides Leben, Stress, Schlafmangel können einen Menschen töten.«
»Irgendetwas tötet früher oder später jeden Menschen.«
»Theoretisch gesehen ja.«
»Ob es eine Obduktion gibt?«, fragte Aomame.
Tamaru beugte sich vor und wischte ein mit bloßem Auge nicht sichtbares Stäubchen von seiner Schuhspitze. »Die Polizei hat Wichtigeres zu tun, als sich mit unverdächtigen Todesfällen abzugeben, wenn es nicht mal eine Verletzung gibt. Außerdem sind ihre finanziellen Mittel begrenzt. Sicher hat niemand Interesse
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