1Q84: Buch 1&2
Ehrgeiz gegangen. Weil sie außerdem nicht vorgehabt hatte, das fertige Objekt zu vermarkten, hatte keine Notwendigkeit bestanden, besser auf Stil und Ausdruck zu achten. Bildlich gesprochen war es so, als erwarte man von einem Haus lediglich, dass es Wände und ein Dach habe und vor Regen und Wind schütze. Deshalb spielte es für Fukaeri auch keine Rolle, wie stark Tengo in ihren Text eingriff, hatte sie ihr Ziel doch bereits erreicht. Sicher hatte sie es vollkommen aufrichtig gemeint, als sie ihm sagte, er könne nach Belieben damit verfahren. Dennoch vermittelten ihm die Sätze, aus denen »Die Puppe aus Luft« bestand, keinesfalls den Eindruck, als wäre sie zufrieden gewesen, solange nur sie selbst sie verstehen konnte. Wäre es Fukaeris alleiniges Ziel gewesen, das Erlebte oder etwas, das ihr vorschwebte, einfach festzuhalten, hätten Stichworte ausgereicht. Es wäre nicht nötig gewesen, sich zu bemühen, etwas Lesbares hervorzubringen. Die Geschichte war auf jeden Fall unter der Prämisse verfasst worden, dass ein anderer sie zur Hand nehmen und lesen würde. Deshalb hatte »Die Puppe aus Luft« diese mitreißende und ergreifende Kraft, auch wenn es nicht als literarisches Werk geschrieben worden und stilistisch ungelenk war. Allerdings hatte Tengo den Eindruck, dass dieser andere sich von der Mehrheit der von der klassischen modernen Literatur geprägten »allgemeinen Leserschaft« unterschied. Dieses Gefühls konnte Tengo sich beim Lesen nicht erwehren.
Welche Art von Leser hatte man sich also vorzustellen?
Das wusste Tengo natürlich nicht.
Was er jedoch wusste, war, dass es sich bei ›Die Puppe aus Luft‹ um ein einzigartiges Stück Literatur handelte, das hohe Qualität und große Mängel in sich vereinte, und dass sich eine besondere Absicht dahinter verbarg.
Als Folge seiner Bearbeitung war das Manuskript bereits auf ungefähr das Zweieinhalbfache seines Umfangs angewachsen. Die Stellen, an denen der Stil unzulänglich war, überwogen die anderen, also würde der Text insgesamt an Umfang zunehmen, wenn er konsequent arbeitete. Der Anfang war jetzt jedenfalls klar . Dieser Teil war nun einigermaßen leicht lesbar, mit vernünftigen und sauberen Sätzen und einer deutlichen Perspektive. Aber der Fluss des Ganzen war irgendwie ins Stocken geraten. Die Logik war zu stark in den Vordergrund getreten, und die Schärfe des anfänglichen Manuskripts hatte gelitten.
Seine nächste Aufgabe war es, Stellen, »die man nicht brauchte«, aus dem umfangreichen Manuskript zu streichen. Jedes überflüssige Gramm Fett eliminieren. Streichen war sehr viel einfacher als ergänzen. Dabei reduzierte er den Text ungefähr auf siebzig Prozent. Es war wie eine Art Denksportaufgabe. In einem bestimmten zeitlichen Rahmen ergänzte er, was zu ergänzen war, und als Nächstes strich er ebenfalls in einer bestimmten Zeit so viel wie möglich. Indem er sich stur an diese Aufgabe hielt, verringerte sich die Textmenge allmählich und pendelte sich auf einen angemessenen Umfang ein. Schließlich kam der Punkt, an dem sie sich weder vergrößern noch verkleinern ließ. Er hatte sein Ego reduziert, hatte überflüssige Schnörkel entfernt und allzu transparente Logik in den Hintergrund verbannt. Tengo hatte eine natürliche Begabung für diese Tätigkeit. Er war der geborene Ingenieur. Er folgte den Spielregeln unbestechlich mit dem Scharfblick und der Konzentration eines Raubvogels, der am Himmel kreisend seine Beute ausspäht, und der Ausdauer eines Esels, der Wasser schleppt.
Tengo arbeitete atemlos, wie in Trance. Als er eine kurze Pause machte und auf die Wanduhr blickte, war es schon drei Uhr. Ihm fiel ein, dass er noch nicht zu Mittag gegessen hatte. Also ging er in die Küche und setzte Wasser auf. Bis es kochte, mahlte er die Kaffeebohnen und aß ein paar Käsecracker und einen Apfel. Während er seinen Kaffee aus einem großen Becher trank, dachte er, um sich abzulenken, ein Weilchen an seine Freundin. Eigentlich würden sie es jetzt gerade tun. Tengo schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und tat einen tiefen Seufzer, der schwer war von den Möglichkeiten und Vorstellungen dessen, was er oder sie dabei genau tun würden.
Dann kehrte er an seinen Schreibtisch zurück, schaltete seinen Verstand wieder ein und las auf dem Bildschirm des Textverarbeitungsgeräts noch einmal die Eingangspassage von »Die Puppe aus Luft«, die er gerade überarbeitet hatte. Er kam sich vor wie der General, der in der Anfangsszene
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