1Q84: Buch 1&2
aus Wege zum Ruhm von Stanley Kubrick die Schützengräben inspiziert. Er war zufrieden mit dem, was er sah. Nicht schlecht. Der Text hatte sich definitiv verbessert. Es ging voran. Aber all das reichte nicht aus. Es gab noch sehr viel zu tun. Überall brachen die Sandsäcke ein. Es mangelte an Munition für die Maschinengewehre. Außerdem entdeckte er ein paar Stellen, an denen noch Stacheldraht fehlte.
Er druckte die entsprechenden Textpassagen aus, speicherte das Dokument ab und schaltete das Gerät aus. Er schob es an den Rand des Schreibtischs und las den Ausdruck noch einmal gründlich mit einem Bleistift in der Hand durch. Wieder strich er, was er für überflüssig hielt. Was ihm zu knapp und unzulänglich erschien, ergänzte er. Stellen, die nicht richtig passten, überarbeitete er so lange, bis sie ihn überzeugten. Er wählte die Worte mit der gleichen Sorgfalt, mit der man einen Haarriss einer Badezimmerkachel ausfüllt, und überprüfte ihr Gefüge von allen erdenklichen Seiten. Passten sie schlecht, formte er sie um. Winzige Unterschiede in den Nuancen belebten den Text, ohne ihm zu schaden.
Tengo war überrascht, dass derselbe Text auf der Anzeige des Wortprozessors einen so gänzlich anderen Eindruck erweckte als auf Papier. Die Worte wirkten ganz anders, je nachdem, ob er sie mit Bleistift auf Papier schrieb oder in das Textverarbeitungsgerät eintippte. Man musste sie aus beiden Perspektiven prüfen. Tengo schaltete das Gerät wieder ein und gab seine mit Bleistift in den Ausdruck eingetragenen Korrekturen einzeln in den Text auf dem Bildschirm ein. Dann las er das korrigierte Manuskript noch einmal auf dem Bildschirm. Nicht übel, dachte Tengo.
Jeder Satz hatte genau das passende Gewicht, und es war ein natürlicher Rhythmus entstanden.
Tengo streckte sich auf seinem Stuhl, schaute zur Decke und atmete tief ein. Natürlich war das alles noch längst nicht fertig. Ganz gleich, wie oft er den Text lesen würde, er würde immer wieder Stellen entdeckten, die er bearbeiten musste. Aber für den Augenblick reichte es. Er war an die Grenzen seiner Konzentrationsfähigkeit gelangt. Er brauchte eine Abkühlungsphase. Der Zeiger der Uhr ging auf fünf zu, und es begann bereits zu dämmern. Morgen würde er sich den nächsten Abschnitt vornehmen. Die ersten Seiten zu redigieren hatte fast einen vollen Tag gedauert. Er brauchte länger, als er gedacht hatte. Aber wenn die Weichen erst einmal gestellt waren und er sich einen festen Rhythmus geschaffen hatte, würde die Arbeit rascher vorwärtsgehen. Der Anfang war immer am schwersten und zeitaufwendigsten. Sobald er die erste Hürde einmal genommen hatte …
Tengo rief sich Fukaeris Gesicht ins Gedächtnis und überlegte, was sie wohl empfinden würde, wenn sie das redigierte Manuskript las. Aber natürlich hatte er keine Ahnung, was und wie Fukaeri empfand oder was sie überhaupt für ein Mensch war. Sie war siebzehn, in der zwölften Klasse, hatte keinerlei Interesse an den Aufnahmeprüfungen für die Universität, eine sonderbare Art zu sprechen und ein so schönes Gesicht, dass es die Herzen der Menschen verwirrte. Und sie trank Weißwein. Mehr wusste er nicht von ihr. Aber in Tengo war es zu einer Art chemischer Reaktion gekommen, die ihn die Beschaffenheit der Welt, die Fukaeri in »Die Puppe aus Luft« zu beschreiben (oder aufzuzeichnen) versucht hatte, genauestens verstehen ließ. Die Szenen, die Fukaeri in ihrer eigentümlichen begrenzten Sprache beschrieben hatte, traten durch Tengos gründliche und aufmerksame Überarbeitung sogar frischer und klarer hervor. Tengo stellte fest, dass ein harmonischer Fluss entstanden war. Er hatte den Text vor allem von der technischen Seite gestützt, aber das Ergebnis war so natürlich und organisch ausgefallen, als habe er ihn von Anfang an selbst geschrieben. Und dennoch drängte die Geschichte von der »Puppe aus Luft« an die Oberfläche.
Dies beglückte Tengo mehr als alles andere. Sich so lange zu konzentrieren hatte ihn auch körperlich erschöpft, aber dennoch fühlte er sich in Hochstimmung. Selbst als er das Gerät schon ausgeschaltet und den Schreibtisch verlassen hatte, beherrschte ihn der Wunsch, mit der Überarbeitung fortzufahren, noch eine ganze Weile. Er hatte die Arbeit an der Geschichte von ganzem Herzen genossen. Vielleicht genügte schon dieser Teil, um Fukaeri nicht zu enttäuschen. Allerdings konnte er sich nicht recht vorstellen, wie Fukaeri aussah, wenn sie enttäuscht war oder sich
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