1Q84: Buch 1&2
keine Bedrohung mehr dar, aber auch jetzt noch erwachte er am Sonntagmorgen häufig mit einem unangenehmen düsteren Gefühl. Alle seine Gelenke waren steif, und manchmal musste er sich sogar übergeben. Die Angst vor dem Sonntag war bis in sein Innerstes vorgedrungen. Vermutlich bis in die Regionen seines tiefsten Unterbewusstseins.
Sein Vater, der für NHK die Rundfunkgebühren einsammelte, hatte Tengo schon auf seine sonntäglichen Runden mitgenommen, bevor dieser in den Kindergarten kam, und diese Gewohnheit hatte er, abgesehen von wenigen Gelegenheiten, bei denen schulische Veranstaltungen es verhinderten, ohne Ausnahme beibehalten, bis der Junge in der fünften Klasse war. Sie standen um sieben Uhr morgens auf, Tengo bekam von seinem Vater das Gesicht mit Seife gewaschen. Nägel und Ohren wurden genau auf ihre Sauberkeit überprüft, dann zog der Vater ihm möglichst ordentliche (aber nicht zu feine) Kleider an und versprach, dass es anschließend etwas Leckeres zu essen gäbe.
Tengo wusste nicht, ob die anderen Gebühreneintreiber von NHK ebenfalls an Feiertagen unterwegs waren. Aber solange er denken konnte, war sein Vater jeden Sonntag zur Arbeit gegangen. Eigentlich war er an diesem Tag noch emsiger, als er es für gewöhnlich schon war. Denn am Sonntag konnte er die Leute erwischen, die wochentags unterwegs waren. Dass er den kleinen Tengo auf seine Runden mitnahm, hatte mehrere Gründe. Einer davon war, dass er den Kleinen nicht allein zu Hause lassen konnte. Wochentags und samstags war Tengo im Hort, im Kindergarten oder in der Schule, aber sonntags hatte alles geschlossen. Eine weitere Begründung lautete, er müsse seinem Söhnchen zeigen, welchen Beruf der Papa ausübe. Von klein auf sollte Tengo lernen, dass das Leben vor allem aus Arbeit und Mühsal bestand. Der Vater war selbst – seit er denken konnte – auch sonntags zur Arbeit aufs Feld geschickt worden. Auf dem Land war zu bestimmten landwirtschaftlich arbeitsintensiven Zeiten sogar der Schulunterricht ausgefallen. Für Tengos Vater war ein solches Leben ganz selbstverständlich.
Der dritte und letzte Grund war berechnend, und er verletzte Tengo darum umso tiefer. Der Vater wusste genau, dass die Leute zugänglicher waren, wenn er mit einem Kind vor der Tür stand. Den meisten fiel es schwer, einen Kassierer mit einem kleinen Kind an der Hand abzuweisen und zu sagen: »Hau ab, ich zahle nicht.« So mancher, der nicht die Absicht gehabt hatte, bezahlte eben doch, wenn das Kind zu ihm aufschaute. Daher nahm der Vater sonntags immer eine Route mit besonders vielen schwierigen Kandidaten. Tengo hatte von Anfang an gespürt, welche Rolle ihm in diesem Spiel zukam, und sehr darunter gelitten. Aber um dem Vater zu gefallen, musste er sie möglichst geschickt spielen. Wie ein dressierter Affe. Denn an Tagen, an denen der Vater mit ihm zufrieden war, behandelte er seinen Sohn freundlich.
Tengos einzige Rettung war, dass der Zuständigkeitsbereich des Vaters im Zentrum der Stadt lag, also ziemlich weit von ihrer eigenen Wohnung entfernt, die sich in einem Vorort von Ichikawa befand. Und auch Tengos Schule war in einem anderen Bezirk. So mussten sie auf ihrer Runde wenigstens nicht an den Häusern anderer Kinder aus seinem Kindergarten oder seiner Schule klingeln. Wenn sie auf ihrem Weg durch die Innenstadt dennoch hin und wieder auf Klassenkameraden von Tengo stießen, verbarg er sich hastig im Schatten seines Vaters, damit sie ihn nicht bemerkten.
Die Väter von Tengos Mitschülern waren in der Regel Angestellte, die im Zentrum von Tokio beschäftigt waren. Sie hielten Ichikawa für einen Teil von Tokio, der aus irgendwelchen Gründen in die Präfektur Chiba eingemeindet worden war. Montagmorgens berichteten seine Schulkameraden stets begeistert, was sie am Sonntag unternommen hatten. Sie waren in Spielparks und Zoos und beim Baseball gewesen. Im Sommer fuhren sie zum Schwimmen ans Meer nach Minami-Boso und im Winter in den Skiurlaub. Ihre Väter kutschierten sie herum oder machten Bergwanderungen mit ihnen. Nun schwärmten sie von diesen Erlebnissen und tauschten sich über alle möglichen Ausflugsziele aus. Nur Tengo hatte nichts zu erzählen. Tengo hatte weder Sehenswürdigkeiten noch Spielparks besucht. Denn er war sonntags von morgens bis abends mit seinem Vater unterwegs, klingelte an den Häusern fremder Leute, verbeugte sich vor denen, die öffneten, und nahm Geld in Empfang. Jenen, die nicht zahlen wollten, drohte der Vater oder redete
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