1Q84: Buch 1&2
ihnen gut zu. Häufig kam es zu Auseinandersetzungen. Manchmal wurden sie beschimpft und verjagt wie streunende Hunde. Das waren weiß Gott keine Abenteuer, mit denen man sich vor seinen Schulkameraden brüsten konnte.
Als Tengo in der dritten Klasse war, kam heraus, dass sein Vater als Kassierer für NHK arbeitete. Wahrscheinlich hatte jemand sie gesehen. Kein Wunder, schließlich lief er jeden Sonntag von morgens bis abends mit seinem Vater durch die halbe Stadt. (Mittlerweile war er auch zu groß, um sich hinter seinem Vater zu verstecken.) Eher war es ein Wunder, dass er so lange unentdeckt geblieben war.
Darauf bekam er den Spitznamen NHK . Unter lauter Mittelschichtkindern aus Angestelltenfamilien wurde er zwangsläufig zu einem Außenseiter. Die meisten Dinge, die für andere Kinder selbstverständlich waren, waren es für Tengo keineswegs. Er lebte in einer ganz anderen Welt und führte ein völlig anderes Leben als sie. Zu seinem Glück hatte Tengo ausgezeichnete Noten und war sehr gut im Sport. Dies und dass er außerdem groß und kräftig war, bewahrte ihn davor, ausgestoßen zu werden, obwohl er »anders« war. Eigentlich war er sogar eher überlegen. Aber wenn ihn die anderen Kinder einmal einluden – »Wir machen nächsten Sonntag einen Ausflug, kommst du mit?« oder »Komm doch mal zu mir« –, wusste er schon vorher, dass sein Vater es ihm nicht erlauben würde. »Tut mir leid, Sonntag habe ich schon was vor«, sagte er dann immer. Bei so vielen Absagen verstand es sich von selbst, dass ihn mit der Zeit niemand mehr fragte. Unversehens gehörte er nirgends mehr dazu und blieb immer für sich.
Jeden Sonntag musste er unweigerlich von morgens bis abends mit seinem Vater die Runde drehen. Das war die unumstößliche Regel, die von keiner Ausnahme bestätigt wurde. Für Abweichungen gab es keinen Raum. Erkältung, Dauerhusten, Fieber, ganz gleich wie hoch, Bauchschmerzen – sein Vater kannte kein Erbarmen. Wenn Tengo dann hinter seinem Vater herstolperte, wünschte er sich oft, einfach tot umzufallen. Dann würde der Vater vielleicht über sein Verhalten nachdenken. Würde einsehen, dass er vielleicht zu streng zu seinem Kind gewesen war. Doch glücklicher- und zugleich unglücklicherweise war Tengo mit einer robusten Gesundheit gesegnet. Ob Fieber, Magenschmerzen oder Erbrechen, er begleitete seinen Vater auf seinen langen Rundgängen von Haus zu Haus, ohne je umzukippen oder die Besinnung zu verlieren. Es muss nicht erwähnt werden, dass er dabei niemals auch nur eine Träne vergoss.
Tengos Vater war ein Jahr nach Kriegsende völlig mittellos aus der Mandschurei zurückgekehrt. Als dritter Sohn einer Bauernfamilie in Tohoku, im nordöstlichen Japan, hatte er sich mit gleichgesinnten Freunden den Pionieren angeschlossen, die die japanische Besiedlung der Mandschurei und der Mongolei vorantreiben sollten. Nicht dass sie die Regierungspropaganda über die Mandschurei als weites fruchtbares Arkadien geschluckt hätten, das jedem Reichtum bringen würde, der sich dort ansässig machte. Dass es ein solches Arkadien nicht gab, war ihnen von Anfang an klar. Aber sie waren bitterarm und fristeten, auch wenn sie auf dem Land lebten, ein Dasein am Rande des Hungertodes. Durch die Weltwirtschaftskrise quoll Japan über von Arbeitslosen, und so hätten sie, auch wenn sie in die Städte gezogen wären, niemals Arbeit gefunden. Die Überfahrt in die Mandschurei war daher für sie der einzige Weg, um zu überleben. Nachdem sie eine notdürftige Grundausbildung als bewaffnete Siedlungspioniere und ein paar spärliche Informationen über die Landwirtschaft in der Mandschurei erhalten hatten, wurden sie mit dreimaligem »Banzai« losgeschickt. Sie ließen die Heimat hinter sich und wurden von Dalian – im Westen besser als Port Arthur bekannt – mit der Eisenbahn in die Nähe der mandschurisch-mongolischen Grenze verfrachtet. Dort erhielten Tengos Vater und seine Kameraden ein Stück Ackerland, Gerätschaften und ein kleines Gewehr und sollten nun Landwirtschaft betreiben. Doch alles, was sie auf dem kargen, steinigen Boden anpflanzten, erfror im Winter, und um nicht zu verhungern, aßen sie sogar streunende Hunde. Nach einigen sehr schweren Anfangsjahren bekamen sie mehr Hilfe von der Regierung und schafften es, eher schlecht als recht dort zu überleben.
Im August 1945 – ihr Leben war endlich etwas leichter geworden – fiel die Sowjetunion entgegen ihrem 1941 mit Japan geschlossenen Neutralitätsabkommen in
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