Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
Beispiel und berichteten über sie. Nicht wenige Menschen in unserer Gesellschaft möchten ihrem Alltag entkommen, auf Geld und Informationen verzichten und stattdessen im Schweiße ihres Angesichts in der freien Natur arbeiten. Gerade sie fühlten sich zu den Vorreitern hingezogen. Alle Bewerber wurden eingehend befragt und geprüft. Wer einsetzbar war, wurde aufgenommen, das waren jedoch beileibe nicht alle. Qualität und Moral der Mitgliederschaft mussten auf hohem Niveau gehalten werden. Gesucht wurden gesunde Menschen, die Kenntnisse in der Landwirtschaft besaßen und harte körperliche Arbeit verrichten konnten. Man strebte ein ausgewogenes Zahlenverhältnis der Geschlechter an, und so waren auch Frauen sehr willkommen. Mit den Mitgliederzahlen stieg auch der Bedarf an Raum; da es jedoch in der näheren Umgebung noch genügend überzählige Felder und Häuser gab, war es nicht schwer, die Anlagen zu erweitern. Anfangs hatte die Kommune hauptsächlich aus jungen Unverheirateten bestanden, doch allmählich schlossen sich ihr auch immer mehr Familien an. Zu den Neuankömmlingen gehörten viele Akademiker und Leute mit einer Fachausbildung, wie Ärzte, Ingenieure, Lehrer oder Buchhalter. Auch sie waren natürlich äußerst willkommen. Denn Fachleute braucht man immer, nicht wahr?«
    »Hatten die Vorreiter das ursprüngliche kommunistische System von Takashima übernommen?«, fragte Tengo.
    Der Sensei schüttelte den Kopf. »Nein, Fukada schaffte das System des gemeinsamen Eigentums ab. Er war zwar politisch radikal, aber auch ein kühler Realist. Sein Ziel war eine mildere Form der Gemeinschaft. Er hatte keinen Ameisenstaat im Sinn. Wenn man mit dem Kollektiv, zu dem man gehörte, unzufrieden war, gab es die Möglichkeit, in eine andere Einheit überzuwechseln, und es stand jedem frei, die Vorreiter ganz zu verlassen. In seiner Zeit bei Takashima hatte er gelernt, dass der frische Wind, den ein System wie dieses mit sich bringt, die Effektivität der Arbeit steigert.«
    Die Verwaltung des Vorreiter-Hofs unter Fukadas Leitung lief günstig und nach Plan. Dennoch zerfiel die Gemeinschaft bald in zwei deutlich getrennte Fraktionen. Bei Fukadas System der lockeren durchlässigen Einheiten war eine Spaltung eigentlich ohnehin unvermeidlich. Die eine – militante und revolutionäre – Gruppe rekrutierte sich aus dem harten Kern der von Fukada selbst ins Leben gerufenen Roten Garde. Ihre Angehörigen betrachteten das Leben in der Landkommune letztlich als eine Vorbereitungsphase für die Revolution. Die Landwirtschaft war eine Art Hinterhalt, und wenn die Zeit gekommen war, würden sie zu den Waffen greifen – das war ihre unerschütterliche Überzeugung.
    Die andere, gemäßigtere Gruppe teilte zwar den antikapitalistischen Standpunkt der Militanten, propagierte aber als Ideal, sich aus der Politik zurückzuziehen und ein selbstgenügsames Gemeinschaftsleben im Einklang mit der Natur zu führen. Zahlenmäßig überwog diese Gruppe. Gemäßigte und Militante waren wie Wasser und Öl. Da sie durch die Landarbeit ständig beschäftigt waren, kam es zu keinen besonderen Problemen, aber wenn Entscheidungen gefällt werden mussten, die die gesamte Kommune betrafen, gingen die Meinungen stets auseinander. Mitunter reichte es nicht für einen Kompromiss. Dann flammten heftige Auseinandersetzungen auf, und es wurde deutlich, dass eine endgültige Spaltung der Kommune nur eine Frage der Zeit war.
    Nach und nach wurde der Raum für neutrale Positionen immer enger. Bald musste sich auch Fukada für eine Seite entscheiden. Auch ihm war damals einigermaßen bewusst, dass das Japan der siebziger Jahre keinen Raum dafür bot, eine Revolution anzuzetteln. Was er im Sinn hatte, war die Revolution als Möglichkeit oder anders gesagt als Gleichnis oder Hypothese. Er glaubte, die Entwicklung zerstörerischer, gegen das System gerichteter Absichten sei unerlässlich für eine gesunde Gesellschaft. Sozusagen als gesunde Würze. Aber die Studenten, die ihm gefolgt waren, wollten eine echte Revolution, in der echtes Blut floss. Dafür trug natürlich Fukada die Verantwortung. Er hatte sie mit dem damaligen Zeitgeist infiziert, sie angestachelt und diesen sinnlosen Mythos von der Revolution in ihre Köpfe gepflanzt. Nie hatte er gesagt: ›Die Revolution ist bloß eine Modeerscheinung.‹ Er war ein aufrechter Mann und sehr scharfsinnig. Auch als Wissenschaftler war er brillant. Doch er neigte leider dazu, sich an seiner allzu großen

Weitere Kostenlose Bücher