1Q84: Buch 1&2
besorgt. Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne.
Tengo schüttelte den Kopf. »Geht schon. Gleich vorbei«, stieß er mühsam hervor.
KAPITEL 11
Aomame
Der Körper ist ein Tempel
Vermutlich gab es nur wenige Menschen, die es zu einer solchen Meisterschaft darin gebracht hatten, einem Mann in die Hoden zu treten, wie Aomame. Tagtäglich hatte sie den Ablauf dieses Tritts genau studiert und es nicht an praktischen Übungen fehlen lassen. Um Treffsicherheit zu erreichen, war das Wichtigste, dass man jegliches Gefühl von Zaghaftigkeit ablegte. Es galt, den Gegner an seinem schwächsten Punkt erbarmungslos, mit voller Wucht und möglichst unerwartet zu attackieren. Genau wie Hitler, indem er, die Neutralität Hollands und Belgiens ignorierend, in diese Länder einfiel, die Maginot-Linie durchstieß und damit Frankreich zu Fall brachte. Man durfte nicht zögern. Ein Augenblick des Zögerns war tödlich.
Aomame war fest überzeugt, dass es kein geeigneteres Mittel gab, mit dem eine Frau einen Mann, der größer und stärker war als sie, in einer direkten Konfrontation außer Gefecht setzen konnte. Dieser Körperteil war der empfindlichste Schwachpunkt, der der Gattung Mann – sozusagen – anhing. Und in den meisten Fällen war der Mann nicht in der Lage, ihn wirkungsvoll zu schützen. Ausgeschlossen, diesen Vorteil nicht zu nutzen.
Welchen Schmerz ein solcher mit voller Wucht ausgeführter Tritt in die Hoden verursachte, konnte Aomame als Frau natürlich nicht konkret nachvollziehen. Nicht einmal erraten. Aber Reaktion und Gesichtsausdruck des Getretenen vermittelten ihr eine hinlängliche Vorstellung, wie extrem dieser Schmerz sein musste. Selbst die stärksten, widerstandsfähigsten Männer schienen dieser Pein, mit der offenbar auch ein großer Verlust an Selbstachtung verbunden war, nicht gewachsen.
Einmal bat Aomame einen Mann, ihr diesen Schmerz zu beschreiben. »Es fühlt sich an, als würde im nächsten Moment die Welt untergehen«, sagte er, nachdem er lange nachgedacht hatte. »Dieser Schmerz ist mit nichts zu vergleichen. Es ist etwas anderes als einfach nur Schmerz.« Aomame hatte länger über diese Analogie nachgedacht. Ein Schmerz, als würde die Welt untergehen?
»Umgekehrt ausgedrückt hieße das also, der Weltuntergang fühlt sich an, als würde einem mit voller Wucht in die Hoden getreten?«, fragte Aomame.
»Keine Ahnung, ich habe noch keinen Weltuntergang erlebt, aber es könnte schon sein«, sagte der Mann und starrte abwesend in die Luft. »Es herrscht nur noch tiefe Ohnmacht. Alles ist düster und erdrückend, und es gibt keine Rettung.«
Irgendwann später sah Aomame zufällig im Spätprogramm den amerikanischen Film Das letzte Ufer , gedreht um 1960. Zwischen Amerika und der Sowjetunion bricht ein globaler Krieg aus, und die Nuklearraketen sausen wie Schwärme fliegender Fische zwischen den Kontinenten hin und her, in null Komma nichts ist die Erde zerstört, und der größte Teil der Menschheit stirbt. Aufgrund einer bestimmten Luftströmung jedoch hat der tödliche Fallout die südliche Hemisphäre mit Australien noch nicht erreicht. Dennoch ist seine Ankunft nur eine Frage der Zeit und die endgültige Vernichtung der Menschheit unabwendbar. Der Film handelte davon, wie einige der Überlebenden in jenem Teil der Erde – den sicheren Tod vor Augen – ihre letzten Tage verbrachten. Es war ein düsterer Film voller Hoffnungslosigkeit (aber während Aomame ihn anschaute, war sie wieder einmal überzeugt, dass jeder im Grunde seines Herzens das Ende der Welt herbeisehnte). Aha, so fühlt es sich also an, wenn einem mit voller Wucht in die Eier getreten wird, dachte sie.
Nach ihrem Sportstudium arbeitete Aomame etwa vier Jahre bei einem Hersteller von Fitnessgetränken und Gesundheitskost. Sie war die Topwerferin und die beste Schlägerin in der Softball-Frauenmannschaft ihrer Firma. Das Team war ziemlich erfolgreich und schaffte es bei landesweiten Turnieren mehrmals unter die acht besten. Einen Monat nach Tamaki Otsukas Tod reichte Aomame jedoch ihre Kündigung ein und setzte damit auch einen Schlusspunkt unter ihre Softball-Karriere. Sie hatte nicht mehr die geringste Lust auf diesen Sport und wollte ihr Leben drastisch und vollständig umkrempeln. Ein etwas älterer Bekannter aus ihrer Studienzeit vermittelte ihr eine Stelle als Trainerin in einem Sportstudio in Hiroo.
Dort unterrichtete sie hauptsächlich Muskeltraining und Kampfsport. Es war ein sehr exklusives Studio mit hohen
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