1Q84: Buch 1&2
Beredsamkeit und seinen eigenen Worten zu berauschen. So betrachtet, fehlte es ihm an tieferer Einsicht und Erfahrung.
Die Gemeinschaft war nun also in zwei Lager gespalten. Die Gemäßigten blieben als Vorreiter in dem ursprünglichen Dorf, die Militanten zogen in ein anderes Dorf, das nur etwa fünf Kilometer entfernt lag, und errichteten dort eine revolutionäre Basis. Die Familie Fukada beschloss, wie auch die anderen Familien, auf dem Vorreiter-Hof zu bleiben. Die Trennung ging einigermaßen freundschaftlich vonstatten. Offenbar hatte wieder Fukada das für den Aufbau einer separaten Kommune notwendige Kapital beschafft. Auch nach der Trennung gab es noch eine oberflächliche Zusammenarbeit zwischen den Höfen. So tauschten sie notwendige Geräte und Materialien aus. Aus wirtschaftlichen Gründen benutzten sie weiterhin die gleichen Vertriebswege. Um überleben zu können, waren die beiden kleinen Kooperativen aufeinander angewiesen. Doch mit der Zeit kam der Verkehr zwischen den Mitgliedern der alten Vorreiter und denen der neuen Splittergruppe praktisch zum Erliegen, da beide inzwischen völlig verschiedene Ziele verfolgten. Nur Fukada hielt auch nach der Spaltung noch Kontakt zu den klugen Studenten, die er selbst angeführt hatte. Er fühlte sich stark für sie verantwortlich. Schließlich hatte er sie organisiert und nach Yamanashi in die Berge geführt. Jetzt konnte er sie nicht einfach so im Stich lassen. Vor allem, da die Splitterkommune auf seine geheime Geldquelle angewiesen war.
»Man könnte sagen, dass Fukada selbst in gewisser Weise gespalten war«, erklärte der Sensei. »Er glaubte nicht wirklich an die Möglichkeit einer Revolution. Er war schließlich kein Romantiker. Auf der anderen Seite konnte er auch nicht völlig darauf verzichten. Die Revolution zu leugnen hätte bedeutet, sein bisheriges Leben zu leugnen und vor aller Welt seinen Irrtum zu bekennen. Das konnte er nicht. Dafür war er zu stolz. Außerdem fürchtete er vielleicht, die Studenten, die er selbst geworben hatte, in Verwirrung zu stürzen. Denn in dieser Phase besaß Fukada noch immer genügend Macht, um seine Studenten unter Kontrolle zu halten. Deshalb hatte er beschlossen, sich zwischen den Vorreitern und der abgespaltenen Kommune hin- und herzubewegen. Fukada war der Anführer der Vorreiter und gleichzeitig Berater der militanten Kommune. Ein Mann, der selbst schon nicht mehr an die Revolution glaubte, fuhr fort, anderen revolutionäre Theorien zu erklären. Neben der Landarbeit widmete sich die neue Gruppe intensiv ihrer militärischen und ideologischen Ausbildung. Politisch traten sie in immer radikaleren Gegensatz zu Fukadas Ideen. Außerdem schotteten sie sich völlig ab und ließen keine Außenstehenden mehr zu. Irgendwann gerieten sie sogar als verfassungsfeindliche Organisation, die zur bewaffneten Revolution aufrief, ins Visier der Nachrichtendienste.«
Der Sensei starrte wieder auf die Knie seiner Hose. Dann hob er das Gesicht.
»Die Spaltung der Vorreiter fand im Jahr 1976 statt. Im Jahr darauf verließ Eri die Gemeinschaft und kam zu uns. Damals gab sich die Splittergruppe den neuen Namen ›Akebono‹.«
Tengo blickte auf und kniff die Augen zusammen. »Einen Moment mal«, sagte er. Akebono. Er erinnerte sich ganz deutlich, diesen Namen schon einmal gehört zu haben. Aber seine Erinnerung war nur vage und verschwommen. Er bekam nur ein paar ungewisse Fragmente zu fassen, scheinbare Fakten. »Hat es nicht vor kurzem einen aufsehenerregenden Vorfall gegeben, der mit der Akebono-Gruppe zusammenhing?«
»Richtig«, sagte Professor Ebisuno und maß Tengo mit einem außergewöhnlich ernsten Blick. »Es handelt sich um die bekannte Gruppe Akebono, die sich in der Nähe des Motosu-Sees in den Bergen ein Feuergefecht mit der Polizei geliefert hat.«
Eine Schießerei, dachte Tengo. Jetzt erinnerte er sich. Eine große Sache. Aber aus irgendeinem Grund waren ihm die Einzelheiten entfallen. Er brachte durcheinander, was davor und danach geschehen war. Er versuchte angestrengt, sich zu erinnern, und hatte dabei das Gefühl, sein gesamter Körper würde verdreht. Als würden sein Oberkörper und sein Unterleib in entgegengesetzte Richtungen geschraubt. In seinem Kopf hämmerte es dumpf, die Luft um ihn herum wurde jäh dünner. Alle Geräusche waren plötzlich gedämpft, als befände er sich unter Wasser. Offenbar bekam er ausgerechnet jetzt einen seiner »Anfälle«.
»Was haben Sie denn?«, fragte der Sensei
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