1Q84: Buch 1&2
Aber …«
Tengo schwieg und wartete darauf, dass der Sensei fortfuhr.
»Ich wiederum habe Vertrauen zu ihr. Wenn sie also sagt, man dürfe Ihnen das Werk überlassen, bleibt mir nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren. Wenn Sie allerdings wirklich die Absicht haben, mit diesem Plan fortzufahren, gibt es einige Fakten, die Eri betreffen und über die Sie vorsichtshalber Bescheid wissen sollten.« Der Sensei bürstete mehrmals mit der Hand über das rechte Knie seiner Hose, als habe er dort einen winzigen Fussel entdeckt. »Sie müssen erfahren, wo und wie sie ihre Kindheit verbracht hat und welche Umstände dazu geführt haben, dass sie bei mir aufgewachsen ist. Allerdings ist das eine lange Geschichte.«
»Ich möchte sie hören«, sagte Tengo.
Neben ihm setzte sich Fukaeri zurecht. Noch immer hielt sie den Kragen ihrer Jacke mit beiden Händen zusammen.
»Gut«, sagte der Sensei. »Die Geschichte beginnt in den sechziger Jahren. Eris Vater und ich waren lange Zeit sehr eng befreundet. Er ist etwa zehn Jahre älter als ich, und wir unterrichteten das gleiche Fach an der gleichen Universität. Obwohl unsere Charaktere und unsere Weltanschauung nicht verschiedener hätten sein können, waren wir uns aus irgendeinem Grund sympathisch. Wir haben beide spät geheiratet, und jeder von uns bekam eine Tochter. Wir wohnten in der gleichen universitätseigenen Siedlung und besuchten einander auch mit unseren Familien. Beruflich kamen wir ebenfalls gut voran. Bei vielen galten wir damals als junge ›scharfsinnige Gelehrte‹. Sogar die Massenmedien berichteten über uns. Für uns war das eine unheimlich aufregende Zeit.
Mit dem Ende der sechziger Jahre verschärfte sich die politische Lage immer mehr. Als 1970 das japanisch-amerikanische Sicherheitsabkommen verlängert wurde, erreichten die Studentenproteste ihren Höhepunkt. Es kam zu Blockaden an den Universitäten, Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften, es gab zum Teil blutige innere Auseinandersetzungen und sogar Tote. Die Lage eskalierte derart, dass ich beschloss, die Universität zu verlassen. Jede akademische Arbeit war unmöglich geworden, und ich hatte damals alles gründlich satt. Ob man für oder gegen das System war, spielte nicht die geringste Rolle. Letztendlich ging es nur noch um Kämpfe zwischen Organisationen. Und ich habe absolut kein Vertrauen zu Organisationen, ob sie nun groß oder klein sind. Ihrem Äußeren nach waren Sie damals noch kein Student, nicht wahr?«
»Als ich an die Uni kam, hatte sich der ganze Aufruhr schon gelegt.«
»Die Party war sozusagen vorbei.«
»Genau.«
Professor Ebisuno hob für einen Moment die Hände und ließ sie dann wieder auf seine Knie fallen. »Also verließ ich die Universität, und zwei Jahre später kehrte auch Eris Vater ihr den Rücken. Er glaubte damals an Maos Ideen und beschäftigte sich intensiv mit der Großen Kulturrevolution. Damals gab es ja kaum Informationen über ihre grausamen und unmenschlichen Seiten, und die kleine rote Fibel mit Maos Aussprüchen war bei einem Teil der Intellektuellen richtig in Mode. Eris Vater gründete mit Studenten, die er um sich geschart hatte, eine radikale Zelle, eine Art Pseudo-Rote-Garde, und beteiligte sich an der Bestreikung der Universität. Er hatte auch Anhänger an anderen Universitäten, die an ihn glaubten und sich ihm anschlossen. Zu Zeiten hatte die von ihm geführte Gruppe großen Zulauf. Auf Aufforderung der Universitätsleitung drang das Überfallkommando in die Universität ein und riss die Barrikaden nieder. Er und seine Studenten wurden festgenommen und verhört. Daraufhin wurde er entlassen. Eri war damals noch so klein, dass sie sich an diese Vorkommnisse wohl nicht mehr erinnern kann.«
Fukaeri schwieg.
»Eris Vater heißt Tamotsu Fukada. Nachdem er die Universität verlassen hatte, trat er mit zehn Studenten, die den harten Kern seiner Roten Garde gebildet hatten, der ›Takashima-Schule‹ bei. Der Großteil seiner Studenten war von der Universität verwiesen worden, und sie brauchten einen Platz, an dem sie unterkommen konnten. Takashima war dafür nicht schlecht. Sie war damals schon ein Thema in den Massenmedien. Haben Sie die Sache verfolgt?«
Tengo schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Fukadas Familie begleitete ihn. Das heißt, seine Frau und Eri. Sie zogen also zu Takashima. Sie wissen, worum es sich bei dieser Gruppe handelt?«
»So ungefähr«, sagte Tengo. »Eine Art Landkommune, die ein vollkommenes
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