1Q84: Buch 3
Schritten ging er in Richtung Bahnhof. Ab und zu drehte er sich hastig um und vergewisserte sich, dass niemand sich an seine Fersen geheftet hatte. Tengo war sich sicher, dass er es merken würde, wenn ihn jemand beschattete. Wegen seiner Größe hatte er naturgemäß einen guten Überblick, und gute Augen hatte er auch. Nachdem er sich ungefähr dreimal umgedreht hatte, beschloss er, dass er nicht verfolgt wurde.
Um fünf Minuten vor sieben traf er in der verabredeten Bar ein. Komatsu war noch nicht da, und Tengo schien der erste Gast des Abends zu sein. Auf der Theke prunkte ein frisch geschnittener Strauß in einer großen Vase und erfüllte den ganzen Raum mit seinem Duft. Tengo setzte sich in eine Nische und bestellte ein Bier vom Fass. Dann zog er ein Taschenbuch aus seiner Jacke und las.
Um Viertel nach sieben betrat Komatsu das Lokal. Er trug einen dünnen Kaschmirpullover, ein Tweedjackett, einen Kaschmirschal, eine Wollhose und Wildlederschuhe. Er sah aus wie immer. Gute Qualität, guter Geschmack und gerade richtig abgetragen. Seine Garderobe wirkte stets wie ein organischer Teil von ihm. Tengo hatte noch nie erlebt, dass Komatsu etwas anhatte, das neu aussah. Vielleicht schlief er ja in seinen neuen Sachen oder wälzte sich darin auf dem Boden, damit sie wie getragen wirkten. Oder er wusch sie mehrmals und ließ sie im Schatten trocknen. In Gesellschaft zeigte er sich nur in dieser gut eingetragenen Kleidung und tat so, als gebe er überhaupt nichts auf seine Garderobe. Jedenfalls sah er in ihr aus wie der Prototyp des altgedienten, erfahrenen Redakteurs. Er setzte sich Tengo gegenüber und bestellte ebenfalls ein gezapftes Bier.
»Äußerlich hast du dich nicht verändert«, sagte Komatsu. »Kommst du mit deinem neuen Roman voran?«
»Ja, einigermaßen.«
»Sehr gut. Ein Schriftsteller entwickelt sich nur, indem er kontinuierlich schreibt. Genau wie eine Raupe unentwegt Blätter frisst. Habe ich es nicht gesagt? Die Bearbeitung von Die Puppe aus Luft hat sich günstig auf dein eigenes Schaffen ausgewirkt. Oder etwa nicht?«
Tengo nickte. »Doch, doch. Ich habe dabei eine Menge gelernt. Mir sind Dinge aufgefallen, die mir bis dahin gar nicht bewusst waren.«
»Ich will mich ja nicht loben, aber ich habe das genau gewusst. Du brauchtest eine Gelegenheit , Kleiner.«
»Aber ich hatte ja auch eine Menge Unannehmlichkeiten, wie Sie wissen.«
Komatsu verzog den Mund zu einer fein geschwungenen winterlichen Mondsichel. Die Bedeutung dieses Lächelns war schwer zu ermessen.
»Große Taten verlangen große Opfer. Ein Naturgesetz.«
»Mag sein. Aber ich kann so schlecht auseinanderhalten, was die große Tat und was das große Opfer ist. Denn es wurde alles ziemlich kompliziert.«
»Gewiss, überaus kompliziert. Du sagst es, Kleiner. Als würde man über ein Gewirr von mehreren Telefonleitungen sprechen«, sagte Komatsu. Dann runzelte er die Stirn. »Übrigens, weißt du, wo Fukaeri im Moment ist?«
»Im Moment weiß ich es nicht«, sagte Tengo bedachtsam.
»Im Moment«, wiederholte Komatsu vielsagend.
Tengo schwieg.
»Aber vor kurzem hat sie noch bei dir gewohnt«, sagte Komatsu. »Habe ich jedenfalls gehört.«
Tengo nickte. »Genau. Ungefähr drei Monate lang.«
»Drei Monate sind eine lange Zeit«, sagte Komatsu. »Und doch hast du niemandem etwas davon gesagt.«
»Sie wollte nicht, dass ich jemandem – Sie eingeschlossen – etwas sage, also habe ich es auch nicht getan.«
»Aber jetzt ist sie nicht mehr da.«
»Genau. Sie hat mir einen Brief hinterlassen und ist ausgezogen, als ich noch in Chikura war. Mehr weiß ich nicht.«
Komatsu nahm eine Zigarette, steckte sie in den Mund und zündete sie mit einem Streichholz an. Er musterte Tengo mit zusammengekniffenen Augen.
»Fukaeri ist wieder bei Professor Ebisuno. Auf diesem Berg in Futamatao«, sagte er. »Der Professor hat die Polizei informiert und die Vermisstenanzeige zurückgezogen. Sie sei nur irgendwohin gefahren und nicht entführt worden. Die Polizei hat sie bestimmt befragt. Über den Grund ihres Verschwindens und darüber, was sie wo getan hat. Schließlich ist sie noch minderjährig. Vermutlich erscheinen bald ein paar Artikel: Lange vermisste Jungautorin wohlbehalten wieder aufgetaucht, etwas in der Art. Keine großen Meldungen wie bei ihrem Verschwinden. Denn es liegt ja kein Verbrechen vor.«
»Meinen Sie, es kommt heraus, dass sie bei mir gewohnt hat?«
Komatsu schüttelte den Kopf. »Nein, wie ich Fukaeri kenne, würde
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