1Q84: Buch 3
Und Aomame war von ihrem Balkon aus Zeugin dieser letzten Sekunden geworden.
Die Wolken bewegten sich in der gleichen Geschwindigkeit über den Himmel wie zuvor. Sie zogen nach Süden, überquerten die Bucht von Tokio und erreichten bald die Weiten des Stillen Ozeans. Welches weitere Schicksal ihnen beschieden war, wusste niemand, ebenso wenig, wie jemand den Zustand der Seele nach dem Tod kannte.
Jedenfalls begann der Kreis sich zu schließen. Doch weder Tengo noch Aomame wussten, mit welcher Geschwindigkeit er sich um sie zusammenzog. Ushikawa hatte die Bewegung leicht gespürt, weil er so aktiv daran mitwirkte. Aber selbst für ihn war noch nicht das ganze Bild sichtbar. Das Entscheidende war ihm entgangen. Nämlich, dass die Distanz zwischen ihm und Aomame nur wenige Meter betrug. Denn es hatte sich etwas ereignet, was bei Ushikawa höchst selten vorkam – als er den Park verließ, war er fassungslos und vermochte nicht in geordneten Bahnen zu denken.
Gegen zehn Uhr wurde die Kälte so streng, dass Aomame sich fügte und in die warme Wohnung zurückkehrte. Sie zog sich aus und nahm ein Bad. Während das heiße Wasser die durchdringende Kälte aus ihrem Körper vertrieb, legte sie die Hände flach auf ihren Unterleib. Sie spürte nun schon eine leichte Rundung. Sie schloss die Augen und versuchte, die Präsenz des Kleinen zu spüren. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Sie musste Tengo unbedingt sagen, dass sie ein Kind von ihm bekam. Und dass sie es mit all ihren Kräften schützen wollte.
Sie machte sich fertig fürs Bett und schlief auf der Seite liegend ein. Bevor sie in Tiefschlaf fiel, träumte sie von der alten Dame.
Aomame sitzt mit der alten Dame im Gewächshaus der Weidenvilla, und sie betrachten die Schmetterlinge. Es ist dämmrig dort und warm wie in einer Gebärmutter. Auch der Gummibaum, den sie in ihrer Wohnung zurückgelassen hat, ist hier. Er sieht gepflegt aus, gesund und so saftig grün, dass sie ihn kaum wiedererkennt. Ein tropischer Schmetterling, den sie nie zuvor gesehen hat, ruht auf einem der fleischigen Blätter. Er hat seine großen bunten Flügel eingefaltet und scheint ruhig zu schlafen. Der Anblick beglückt Aomame.
In ihrem Traum ist Aomames Bauch viel dicker. Die Geburt des Kindes steht offenbar kurz bevor. Sie kann den Herzschlag des Kleinen hören. Er verbindet sich mit ihrem eigenen, und gemeinsam bilden sie einen wohltuenden Rhythmus.
Neben Aomame sitzt die alte Dame, wie immer kerzengerade, mit fest geschlossenen Lippen und atmet leise. Die beiden sprechen nicht, um den schlafenden Schmetterling nicht zu wecken. Die alte Dame wirkt unnahbar und scheint Aomame nicht einmal zu bemerken. Obwohl diese natürlich weiß, dass die alte Dame ihre Beschützerin ist. Dennoch will eine gewisse Unsicherheit nicht aus ihrem Herzen weichen. Die Hände, die im Schoß der alten Dame ruhen, muten allzu schmal und fragil an. Unwillkürlich tastet Aomame nach ihrer Pistole. Doch sie ist nirgends zu finden.
Obwohl der Traum sie fest umfangen hat, weiß Aomame, dass sie träumt. Sie kennt diese Träume, bei denen sie aller Lebendigkeit und aller scheinbaren Wirklichkeit zum Trotz weiß, dass sie nicht real sind. Sie stellen nur detailgetreu die Szenerie eines anderen Planeten dar.
Jemand öffnet die Tür zum Gewächshaus. Ein unheilvoller, kalter Luftzug entsteht. Der große Schmetterling erwacht, breitet die Flügel aus und flattert vom Gummibaum auf. Wer ist das? Sie will den Kopf drehen, um nachzusehen. Doch bevor sie die Person erblickt, endet ihr Traum.
Als Aomame erwachte, war sie in kaltem Schweiß gebadet. Sie zog ihren feuchten Pyjama aus, rieb sich mit einem Handtuch ab und zog ein frisches T-Shirt an. Eine Weile blieb sie aufrecht auf dem Bett sitzen. Vielleicht bahnte sich etwas Unheilvolles an. Jemand hatte es auf das Kleine abgesehen. Und dieser Jemand war ganz nah. Sie musste Tengo so schnell wie möglich finden. Aber im Augenblick konnte sie nichts anderes tun, als weiter jeden Abend den Spielplatz zu beobachten. Ihren Blick wachsam, geduldig und unermüdlich auf diesen kleinen Ausschnitt der Welt zu konzentrieren. Auf diese Rutschbahn. Dennoch konnte man immer irgendetwas übersehen. Schließlich hatte auch sie nur zwei Augen.
Aomame hätte gern geweint. Aber es kamen keine Tränen. Sie ging wieder zu Bett, legte sich die Handflächen auf den Unterleib und wartete still darauf, dass der Schlaf kam.
Kapitel 18
Tengo
Wenn rotes Blut fließt
»Dann ist drei Tage
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