1Q84: Buch 3
Wahrnehmende und Empfänger. Dazu ist es notwendig, eine Puppe aus Luft zu fertigen. Denn erst mit Hilfe dieses Gebildes können sie die Daughter erschaffen. Und um eine Daughter zu produzieren, braucht man die richtige Mother.«
»Das ist deine Sichtweise, Tengo?«
Tengo schüttelte den Kopf. »Das ist keine Ansichtssache. Haben Sie bei der Zusammenfassung der Geschichte nicht das Gleiche gedacht, Herr Komatsu?«
Tengo hatte, als er die Geschichte überarbeitete und auch noch lange danach, immer wieder über die Bedeutung von Mother und Daughter nachgedacht, ohne dass sich je ein schlüssiges Gesamtbild eingestellt hätte. Aber während er mit Komatsu sprach, fügten sich die Einzelteile allmählich zu einem Ganzen zusammen. Dennoch blieb eine Frage offen: Warum war auf dem Bett seines Vaters im Sanatorium die Puppe aus Luft aufgetaucht, die Aomame als Mädchen barg?
»Ein interessantes Konstrukt«, sagte Komatsu. »Aber ob es für die Mother nicht problematisch ist, wenn sie sich von der Daughter trennt?«
»Wahrscheinlich ist die Mother ohne ihre Daughter kein vollständiges Wesen. Wir haben keinen konkreten Hinweis, dass es sich bei unserer Fukaeri um eine solche handelt, aber einige wesentliche Bestandteile fehlen ihr jedenfalls. Vielleicht wie bei einem Menschen, der seinen Schatten verloren hat. Was aus einer Daughter ohne ihre Mother wird, weiß ich nicht. Vermutlich ist auch sie ein unvollkommenes Wesen. Denn sie ist ja nicht mehr als eine Kopie. Vielleicht konnte ja in Fukaeris Fall die Daughter auch ohne Mother die Rolle eines Mediums erfüllen.«
Komatsu presste kurz die Lippen aufeinander, bevor er einen Mundwinkel leicht nach oben zog. »Sag mal, Tengo, mein Kleiner, glaubst du etwa, dass alles, was in Die Puppe aus Luft steht, wirklich passiert ist?«
»Nicht direkt. Vorläufig sind das nur Vermutungen. Aber gehen wir mal davon aus, es sei passiert.«
»In Ordnung«, sagte Komatsu. »Das heißt, Fukaeris Klon kann auch weit von der ursprünglichen Körpersubstanz entfernt als Medium fungieren.«
»Deshalb haben die Vorreiter die flüchtige Fukaeri auch nicht mit Gewalt zurückgeholt, obwohl sie wussten, wo sie sich aufhielt. Denn aus irgendeinem Grund konnte ihre Daughter ihre Pflichten erfüllen, ohne dass die Mother in der Nähe war. Vielleicht war das Band zwischen ihnen trotz der großen Entfernung sehr stark.«
»Verstehe.«
»Ich stelle es mir so vor«, fuhr Tengo fort, »dass sie über mehrere Daughters verfügen. Die Little People nutzten wohl jede Gelegenheit, um verschiedene Puppen aus Luft zu schaffen, weil nur eine Perceiver zu unsicher ist. Vielleicht ist die Anzahl der voll funktionsfähigen Daughters auch beschränkt. Möglicherweise gibt es eine mächtige Daughter im Zentrum einiger weniger potenter Hilfs-Daughters, und sie agieren als Gruppe.«
»Und die, die Fukaeri zurückgelassen hat, wäre dann die voll funktionsfähige Haupt-Daughter?«
»Die Wahrscheinlichkeit ist hoch. Fukaeri stand bei den jüngsten Ereignissen immer im Mittelpunkt. Wie im Auge des Orkans.«
Komatsu kniff die Augen zusammen und verschränkte die Hände auf dem Tisch. Wenn er wollte, konnte er in kürzester Zeit die scharfsinnigsten Ideen hervorbringen.
»Weißt du, Tengo«, sagte er, »ich habe nachgedacht. Wäre es denn nicht auch möglich, dass unsere Fukaeri in Wirklichkeit die Daughter ist und die, die in der Sekte geblieben ist, die Mother?«
Komatsus Worte versetzten Tengo einen Schock. Diese Möglichkeit hatte er nie in Betracht gezogen. Für ihn war Fukaeri immer eine reale Person gewesen. Aber möglich war so etwas durchaus. »Mach dir keine Sorgen. Ich werde nicht schwanger. Weil ich keine Periode habe«, hatte Fukaeri in jener Nacht nach ihrem sonderbaren, einseitigen Geschlechtsakt verkündet. Falls sie nur ein Klon war, passte das genau. Ein Klon konnte sich nicht reproduzieren. Nur die Mother konnte das. Tengo war fassungslos angesichts der Möglichkeit, mit einem Klon statt mit der echten Fukaeri Geschlechtsverkehr gehabt zu haben.
»Fukaeri hat ganz klar eine Persönlichkeit«, sagte er. »Sie hat charakteristische Merkmale und Verhaltensmuster. Das hätte doch ein Klon bestimmt nicht.«
»Nein, sicher nicht«, pflichtete Komatsu ihm bei. »Du sagst es. Wenn sie auch sonst nichts hat, Persönlichkeit und ausgeprägte Verhaltensmuster hat sie. Da kann ich dir nur zustimmen.«
Dennoch barg Fukaeri irgendein Geheimnis. Tengo hatte das Gefühl, in das schöne Mädchen sei ein
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