1Q84: Buch 3
keine konkreten Informationen enthält. Wofür diese Stimmen stehen und was ihre Botschaften sind, das ist nicht unser Problem. Wir steigen jetzt ganz und gar aus der Sache aus, ja?«
»Wir verlassen das Boot und kehren zu unserem Leben an Land zurück.«
Komatsu nickte. »Genau. Ich gehe jeden Tag ins Büro und widme mich brav meinen belanglosen Manuskripten für die Zeitschrift für Literatur und Kunst . Du schreibst in der Zwischenzeit deinen Roman und unterrichtest nebenher vielversprechende junge Menschen in der Kunst der Mathematik. Jeder von uns geht wieder seinem friedlichen Alltag nach. Keine Stromschnellen und kein Wasserfall. Die Tage vergehen, und wir verbringen ein ruhiges Jahr nach dem anderen. Dagegen ist doch nichts einzuwenden, oder?«
»Uns bleibt wohl keine andere Wahl.«
Komatsu glättete mit dem Finger die Falten an seiner Nase. »Ganz recht. Wir haben keine andere Wahl. Ich möchte nicht noch mal entführt werden. Drei Wochen Isolationshaft in so einer Kammer reichen mir. Beim nächsten Mal bekäme ich vielleicht die Sonne nie wieder zu sehen. Außerdem flattern mir allein beim Gedanken an ein Wiedersehen mit diesen beiden Typen die Herzklappen. Leute wie die können mit einem einzigen Blick den Tod eines Menschen herbeiführen.«
Komatsu wandte sich der Theke zu und hob sein Glas, um den dritten Highball zu bestellen. Er steckte sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen.
»Aber warum haben Sie mir eigentlich bis jetzt nichts von dieser Sache erzählt?«, fragte Tengo. »Seit Ihrer Entführung ist schon ziemlich viel Zeit vergangen. Über zwei Monate. Ich wünschte, Sie hätten mich früher eingeweiht.«
»Tja, warum habe ich es nicht getan?«, sagte Komatsu, den Kopf leicht zur Seite geneigt. »Du hast sicher recht. Irgendwie habe ich es immer wieder hinausgeschoben. Vielleicht aus schlechtem Gewissen.«
»Aus schlechtem Gewissen?«, fragte Tengo erstaunt. Nie hätte er geglaubt, so etwas jemals aus Komatsus Mund zu hören.
»Ja, sogar ich habe ein Gewissen«, sagte Komatsu.
»Aber weshalb sollten Sie ein schlechtes Gewissen haben?«
Hierauf gab Komatsu keine Antwort. Er kniff die Augen zusammen und bewegte seine nicht angezündete Zigarette zwischen den Lippen.
»Ob Fukaeri weiß, dass ihre Eltern tot sind?«, fragte Tengo.
»Ich glaube, sie weiß es. Professor Ebisuno hat es ihr bestimmt irgendwann mitgeteilt.«
Tengo nickte. Er hatte das Gefühl, dass Fukaeri es schon seit langer Zeit wusste. Er war der Einzige, dem man nichts gesagt hatte.
»Aber glauben Sie denn, Herr Komatsu, dass wir unser früheres Leben so einfach fortführen können?«
»Wir können uns nur bemühen«, sagte Komatsu und steckte sich mit einem Streichholz die Zigarette an. »Denkst du da an etwas Bestimmtes?«
»Mir kommt es vor, als seien alle möglichen Dinge um uns herum synchron in Bewegung geraten. Vieles hat sich bereits verändert. Vielleicht können wir nicht so einfach zurück.«
»Aber wenn unser kostbares Leben daran hängt?«
Tengo schüttelte vage den Kopf. Er spürte, dass er von einer starken, andauernden Strömung mitgerissen wurde, die im Begriff war, ihn an einen unbekannten Ort zu spülen. Doch das konnte er Komatsu nicht gut erklären.
Tengo hatte Komatsu nicht anvertraut, dass er den Schauplatz für den Roman, an dem er neuerdings schrieb, dem Roman Die Puppe aus Luft entlehnt hatte. Komatsu hätte das bestimmt nicht gutgeheißen. Ebenso wenig wie die Vorreiter. Wenn er Pech hatte, würde er erneut in ein Minenfeld tappen. Oder Menschen aus seiner Umgebung mit hineinziehen. Doch die Geschichte hatte ein Eigenleben und verfolgte ihre eigenen Ziele. Sie entwickelte sich fast von selbst, und Tengo war, ob er nun wollte oder nicht, schon ein Teil ihrer Welt geworden. Für ihn war sie nicht mehr fiktiv, sondern ganz real, eine Welt, in der echtes, rotes Blut hervorquoll, wenn man sich mit einem Messer ritzte. Und an ihrem Himmel standen nebeneinander ein großer und ein kleiner Mond.
Kapitel 19
Ushikawa
Das kann kein normaler Mensch
Es war ein windstiller, ruhiger Donnerstagmorgen. Ushikawa erwachte wie immer kurz vor sechs Uhr und wusch sich mit kaltem Wasser. Während er sich rasierte und seine Zähne putzte, hörte er die Nachrichten im Radio. Anschließend erhitzte er Wasser in einem Topf und machte sich einen Becher Fertignudeln. Nachdem er sie gegessen hatte, trank er eine Tasse Instantkaffee. Er rollte den Schlafsack zusammen, packte ihn in den Wandschrank und nahm
Weitere Kostenlose Bücher