1Q84: Buch 3
hervorstachen. »Du machst wohl einen Spaziergang? Sehr gut, Bewegung ist gesund. Schönes Wetter hast du ja, also viel Vergnügen. Ich würde mich auch gern strecken und mir mal die Beine vertreten. Leider muss ich den ganzen Tag hier hocken und den Eingang von deinem blöden Haus beobachten.«
Der alte Mann trug eine Strickjacke und Wollhosen. Er hielt sich sehr aufrecht. Ein treuer weißer Hund hätte sehr gut zu ihm gepasst, aber Haustiere waren hier nicht gestattet. Als der alte Mann fort war, wurde Ushikawa aus heiterem Himmel von tiefer Hoffnungslosigkeit überwältigt. Vielleicht erweist es sich am Ende als völlig sinnlos, dass ich hier auf der Lauer liege, dachte er. Womöglich trügt mich mein Instinkt, und ich reibe mich in dieser leeren Wohnung nutzlos auf, ohne etwas zu erreichen. Nutze mich ab wie der Kopf einer Jizo-Statue, den die Kinder im Vorübergehen immer wieder streicheln. Um die Mittagszeit aß Ushikawa einen Apfel und ein paar Cracker mit Käse. Außerdem ein Onigiri mit Umeboshi, einen Reiskloß mit einer salzig eingelegten Pflaume in der Mitte. Anschließend schlief er ein bisschen. Es war ein kurzer, traumloser Schlaf, aber als er aufwachte, konnte er sich nicht erinnern, wo er war. Sein Gedächtnis war ein viereckiger, sauberer, leerer Kasten. Ushikawa schaute sich in seiner Leere um. Und als er genau hinsah, war es keine Leere. Es war ein dämmriges Zimmer, kalt und ohne ein einziges Möbelstück. Es war ihm nicht vertraut. Neben ihm lag auf einem Blatt Zeitungspapier das Kerngehäuse eines Apfels. Ushikawa war verstört. Was tat er an einem so sonderbaren Ort?
Gleich darauf fiel ihm ein, dass er ja den Eingang des Hauses beobachtete, in dem Tengo wohnte. Richtig, da war ja auch die Spiegelreflex von Minolta mit dem Tele-Objektiv. Er dachte an den weißhaarigen Alten mit den spitzen Ohren, der zu seinem einsamen Spaziergang aufgebrochen war. Allmählich kehrten die Erinnerungen in den leeren Kasten zurück, wie Vögel bei Sonnenuntergang in ein Wäldchen zurückfliegen. Zwei solide Fakten hatten sich ergeben:
1. Eriko Fukada hatte das Haus verlassen.
2. Tengo Kawana war nicht zurückgekehrt.
In Tengo Kawanas Wohnung im zweiten Stock war nun niemand mehr. Die Vorhänge waren zugezogen, und die Stille, die in dem verlassenen Zimmer herrschte, wurde nur durch die gelegentlichen Aktionen des Kühlschrankthermostats gestört. Ushikawa stellte sich ohne besondere Absicht die Szene vor. Sich eine leere Wohnung vorzustellen hat eine gewisse Ähnlichkeit damit, sich das Jenseits vorzustellen. Unvermittelt kam ihm der NHK -Kassierer mit seinem eigenartigen Geklopfe in den Sinn.
Ushikawa hatte die ganze Zeit Wache gehalten, und dennoch gab es keinen Anhaltspunkt, dass der rätselhafte Mann das Haus wieder verlassen hatte. Ob er womöglich hier wohnte? Oder ob sich jemand, der hier wohnte, als NHK -Kassierer ausgab, um seine Nachbarn zu terrorisieren? Aber wozu in aller Welt sollte jemand so etwas tun? Eine ziemlich abnorme Vorstellung. Doch welche Erklärung konnte es sonst für dieses sonderbare Gebaren geben? Ushikawa fiel keine ein.
Es war kurz vor vier Uhr nachmittags, als Tengo Kawana an der Tür des Hauses auftauchte. Er hatte den Kragen seiner abgetragenen Windjacke aufgestellt; trug auf dem Kopf eine dunkelblaue Baseballmütze und über der Schulter eine Reisetasche. Er ging sofort ins Haus, ohne an der Tür stehenzubleiben oder sich umzuschauen. Auch wenn Ushikawas Aufmerksamkeit schon etwas erlahmt war, konnte er Tengos kräftige Statur kaum übersehen.
»Aha, willkommen zu Hause, Herr Kawana«, flüsterte Ushikawa, und die Kamera machte drei Aufnahmen. »Wie geht es Ihrem Herrn Vater? Sie müssen erschöpft sein. Ruhen Sie sich erst mal aus. Es tut sicher gut, wieder zu Hause zu sein. Selbst wenn man in einer so armseligen Kiste wohnt. Ach ja, und Eriko Fukada hat, als Sie weg waren, ihre Sachen gepackt und ist gegangen.«
Aber natürlich konnte Tengo ihn nicht hören. Ushikawa warf einen Blick auf seine Armbanduhr und machte sich eine Notiz. 15 Uhr 56 – Tengo Kawana kommt nach Hause.
In dem Moment, als Tengo im Eingang des Hauses erschien, schwang irgendwo eine Tür weit auf, und das Gefühl für die Realität kehrte in Ushikawas Bewusstsein zurück. Als habe sich ein Vakuum mit Atmosphäre gefüllt, schärften sich augenblicklich seine Sinne, und neue Energie breitete sich in ihm aus. Er fügte sich wieder als funktionstüchtiges Bauteil in die materielle Welt
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