1Q84: Buch 3
Fernseher und wärmten sich an heißen Getränken. Kaum jemand war auf der Straße. Ushikawa folgte Tengo in angemessener Distanz. Zumindest war er ein Mensch, der leicht zu beschatten war. Er war so groß und kräftig, dass man ihn auch in einer Menschenmenge nicht aus den Augen verlor. Wenn er ging, ging er geradeaus und wich nicht ständig vom Weg ab. Er hielt den Kopf leicht gesenkt und schien beständig über etwas nachzusinnen. Im Grunde war er ein aufrichtiger, ehrlicher Mann. Kein Typ, der etwas verbergen konnte. Ganz anders als Ushikawa.
Ushikawas frühere Frau war ebenfalls ein Mensch, der gern etwas verbarg. Oder nein, gern konnte man das nicht mehr nennen. Sie konnte ohne Heimlichtuerei nicht leben .
Nicht einmal wenn man sie nach der Uhrzeit fragte, bekam man eine wahrheitsgemäße Antwort. Hierin unterschied sie sich auch von Ushikawa. Er hielt nur geheim, was nötig war. Verschwiegenheit war für ihn lediglich ein unverzichtbarer Teil seiner Arbeit. Fragte ihn jemand nach der Uhrzeit, und es gab keinen Grund, unaufrichtig zu sein, gab er freundlich und korrekt Auskunft. Seine Frau hingegen log bei ausnahmslos jeder Gelegenheit. Mit größter Begeisterung verschleierte sie auch Sachverhalte, bei denen dies völlig unnötig war. So hatte er beispielsweise erst auf dem Standesamt erfahren, dass sie sich die ganze Zeit um vier Jahre jünger gemacht hatte. Er hatte es auf ihrer Geburtsurkunde gesehen, aber geschwiegen und getan, als habe er nichts gemerkt. Es war Ushikawa völlig unverständlich, warum sie bei einer Sache log, die unweigerlich ans Licht kommen würde. Dabei war er kein Mensch, dem ein Altersunterschied etwas ausgemacht hätte. Da gab es viele andere Dinge, die ihn viel mehr störten. Wo war das Problem, wenn seine Frau in Wirklichkeit sieben Jahre älter war als er?
Je weiter sie sich vom Bahnhof entfernten, desto seltener begegneten sie jemandem. Bald steuerte Tengo einen kleinen Park mit einem schäbigen Spielplatz an. Der Park war menschenleer. Kein Wunder, dachte Ushikawa. Wer will einen so kalten, windigen Dezemberabend schon auf einem Spielplatz verbringen? Tengo schritt unter dem kalten Licht einer Straßenlaterne hindurch geradewegs auf die Rutschbahn zu, blieb vor ihr stehen und stieg dann hinauf.
Hinter einem Telefonhäuschen verborgen, verfolgte Ushikawa jede seiner Bewegungen. Eine Rutschbahn? Ushikawa runzelte die Stirn. Warum sollte ein erwachsener Mann an einem klirrend kalten Abend auf eine Rutschbahn klettern? Der Park befand sich nicht einmal in unmittelbarer Nähe zu Tengos Wohnung. Er hatte ihn eigens zu dem Zweck aufgesucht. Aber warum? Man konnte nicht behaupten, dass es ein besonders hübscher Park war. Er war sogar klein und schäbig. Die Rutschbahn, zwei Schaukeln, ein Sandkasten und ein kleines Klettergerüst. Eine Quecksilberlaterne, deren Licht an das Ende der Welt denken ließ, und ein kahler Keyaki-Baum. Die verschlossene öffentliche Toilette diente Graffiti-Sprayern als Leinwand. Nichts in dem Park wirkte besonders entspannend oder anregend. An schönen Nachmittagen im Mai war das vielleicht etwas anderes, aber an einem stürmischen Dezemberabend hatte der Park nichts zu bieten. Absolut nichts.
Ob Tengo hier mit jemandem verabredet war? Ob er auf jemanden wartete? Nichts an seinem Verhalten ließ darauf schließen. Außerdem war er, kaum dass er den Park betreten hatte, geradewegs auf die Rutschbahn zugesteuert, ohne auf die anderen Spielgeräte zu achten. Tengo war hierhergekommen, um auf diese Rutschbahn zu steigen. Für Ushikawa sah es eindeutig so aus.
Vielleicht war Tengo schon früher gern zum Nachdenken auf eine Rutschbahn gestiegen. Vielleicht war ein dunkler Park der beste Ort, um über eine Romanhandlung oder eine mathematische Formel nachzudenken. Vielleicht arbeitete das Gehirn desto besser, je dunkler die Gegend, je kälter der Wind und je schäbiger ein Park war. Es entzog sich Ushikawas Vorstellung, was die Schriftsteller (oder Mathematiker) auf dieser Welt so dachten. Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass ihm nicht viel anderes übrigblieb, als Tengo geduldig im Auge zu behalten. Die Zeiger seiner Uhr standen genau auf acht.
Tengo saß, seinen langen Oberkörper nach vorne gebeugt, auf der Rutschbahn und blickte zum Himmel hinauf. Er bewegte den Kopf hin und her, hielt ihn dann aber still und sah in eine bestimmte Richtung.
Ushikawa fühlte sich an einen sentimentalen Schlager von Kyu Sakamoto erinnert, der früher einmal sehr
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