1Q84: Buch 3
eine Zeit, in der es kaum Bewegung im Haus gab. Aber Ushikawa wollte sich sicherheitshalber vergewissern, wann Tengo nach Hause kam.
Plötzlich trat eine Person in einer schwarzen Daunenjacke aus dem Haus. Eine Frau, die er noch nie gesehen hatte. Sie hatte ihren grauen Schal bis zur Nase hochgezogen, trug eine dunkle Brille und eine Baseballmütze. Offenkundig wollte sie nicht erkannt werden. Sie hatte nichts bei sich und ging schnell, mit langen Schritten. Ushikawa hatte reflexartig auf den Auslöser gedrückt, und die Kamera machte automatisch drei Aufnahmen hintereinander. Ich muss wissen, wohin diese Frau geht, dachte er. Aber als er sich anschickte, aufzustehen, hatte sie die Straße bereits verlassen und war in der Nacht verschwunden. Ushikawa verzog das Gesicht. Er musste sie entwischen lassen. Wenn er erst die Schuhe angezogen hätte, wäre sie bei ihrem Tempo längst nicht mehr einzuholen gewesen.
Ushikawa rief sich die Frau, die er gerade gesehen hatte, vor Augen. Etwa eins siebzig groß, enge Jeans, weiße Turnschuhe. Die gesamte Kleidung hatte sonderbar neu ausgesehen. Altersmäßig musste die Frau zwischen Mitte zwanzig und dreißig sein. Das Haar hatte im Kragen gesteckt, und er hatte nicht sehen können, wie lang es war. Wegen der dicken Daunenjacke war ihre Statur kaum zu erkennen gewesen, aber ihren Beinen nach zu urteilen war sie sehr schlank. Ihre aufrechte Haltung und der federnde Gang wiesen auf einen jungen und gesunden Menschen hin. Vermutlich trieb sie täglich Sport. All diese Merkmale passten zu dem, was er über Aomame wusste. Natürlich konnte er nicht als gegeben annehmen, dass die Frau wirklich Aomame gewesen war. Allerdings war sie offenbar sehr bedacht darauf gewesen, von niemandem gesehen zu werden. Sie hatte gehetzt und angespannt gewirkt, wie eine Schauspielerin auf der Flucht vor Paparazzi. Schwer vorstellbar jedoch, dass eine berühmte, von den Massenmedien gejagte Schauspielerin in einem heruntergekommenen Mietshaus in Koenji ein und aus ging.
Angenommen, es war wirklich Aomame.
Sie war gekommen, um Tengo zu sehen. Aber Tengo war nicht zu Hause. In seiner Wohnung brannte kein Licht. Aomame musste unverrichteter Dinge abziehen, weil niemand aufmachte. Wahrscheinlich war das, was er gehört hatte, ihr zweimaliges Klingeln gewesen. Aber eine Ungereimtheit gab es da noch. Aomame wusste, dass sie gejagt wurde, also würde sie sich doch tunlichst verborgen halten, um die Gefahr einer Entdeckung möglichst zu vermeiden. Da hätte es sich angeboten, Tengo zuerst anzurufen und sich zu vergewissern, dass er zu Hause war. Und nicht ein so unnötiges Risiko einzugehen.
Ushikawa saß vor der Kamera und überlegte hin und her, aber ihm fiel keine logische Begründung ein. Das Verhalten der Frau, die so offensichtlich verkleidet ihr Versteck verlassen und dieses Mietshaus aufgesucht hatte, passte nicht zu dem, was er über Aomames Charakter wusste. Er hatte ihr viel mehr Vorsicht und Wachsamkeit zugetraut. Das verwirrte Ushikawa ungemein. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, was sie hierhergeführt haben mochte.
Jedenfalls würde er am Morgen zu dem Express-Labor am Bahnhof gehen und den Film entwickeln lassen, auf dem er die rätselhafte Frau abgelichtet hatte.
Bis nach zehn hielt Ushikawa noch Wache, aber es ging niemand mehr durch die Tür. Das Treppenhaus wirkte still und verlassen wie ein Theater nach einer schlecht besuchten Vorstellung. Kopfschüttelnd fragte er sich, wo Tengo sich so lange herumtrieb. Soviel er wusste, kam dieser selten spät nach Hause. Und gerade heute, am Abend bevor sein Unterricht an der Yobiko wieder anfing. Vielleicht war er nach Hause gekommen, als Ushikawa fort gewesen war, und dann früh zu Bett gegangen?
Gegen zehn Uhr merkte Ushikawa, dass er völlig erschöpft war. Seine Müdigkeit war so groß, dass er kaum die Augen offen halten konnte. Das kam bei Ushikawa, der eine echte Nachteule war, nur selten vor. Normalerweise konnte er, wenn es nötig war, ewig wachbleiben. Doch heute lastete die Schläfrigkeit erbarmungslos wie der steinerne Deckel eines alten Sarkophags auf ihm.
Wahrscheinlich habe ich zu lange in die beiden Monde gestarrt, dachte er. Und meine Haut zu stark ihrem Licht ausgesetzt. Der große und der kleine Mond hatten ihren matten Abglanz auf seiner Netzhaut zurückgelassen. Ihre dunklen Silhouetten lähmten die weichen Teile seines Gehirns. Es war, als habe eine Schlupfwespe eine große Raupe mit ihrem Stich betäubt und ihre Eier
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