1Q84: Buch 3
aber offen gesagt musste ich Kontakt zu den Vorreitern aufnehmen. In der Wohnung liegt nämlich etwas, das möglichst nicht den Vertretern des Gesetzes in die Hände fallen sollte. Würden sie es finden, würden sie jeden Bewohner des Hauses gründlich durchleuchten. Eventuell würde dann auch dein Freund in die Sache verwickelt werden. Und allein konnte ich das Problem nicht beseitigen. Wäre ich mitten in der Nacht mit diesem Ding durch die Gegend marschiert und einem Gesetzesvertreter aufgefallen, hätte ich mich nie herausreden können. Aber die Sekte hat die nötigen Leute und logistischen Möglichkeiten, und außerdem sind sie mit so was vertraut. Diesen anderen Gegenstand haben sie ja auch aus dem Hotel Okura geschafft. Verstehst du, was ich meine?«
Aomame übersetzte Tamarus Code im Geiste. »Deine Überredungskünste haben wohl ziemlich massive Formen angenommen?«
Tamaru brummte kurz. »Ja, sehr bedauerlich, aber der Mann wusste einfach viel zu viel.«
»Wussten die Vorreiter, was der Wasserkopf in dem Mietshaus gemacht hat?«, fragte Aomame.
»Eigentlich hat er für sie gearbeitet. Aber in dem Haus hat er auf eigene Faust observiert. Zum Glück für uns hatte er seine Erkenntnisse noch nicht weitergegeben.«
»Aber mittlerweile wissen sie, was er dort gemacht hat?«
»Genau. Deshalb gehst du für eine Weile besser nicht in die Nähe. Tengo Kawanas Name und Adresse stehen bestimmt auf ihrer Checkliste. Immerhin ist er der Coautor von Die Puppe aus Luft . Ich nehme an, von der persönlichen Verbindung zwischen Kawana und dir wissen sie noch nichts. Doch wenn sie nach dem Grund für das suchen, was der Wasserkopf in dem Haus getrieben hat, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie auf Tengo Kawana kommen.«
»Aber wenn wir Glück haben, kann das eine Weile dauern. Wahrscheinlich werden sie den Tod des Wasserkopfs nicht so schnell mit Tengo in Verbindung bringen.«
»Wenn wir Glück haben«, sagte Tamaru. »Und wenn unsere Freunde nicht so gerissen sind, wie ich denke. Aber ich verlasse mich niemals auf das Glück . Das ist auch der Grund dafür, dass ich noch am Leben bin.«
»Also halte ich mich lieber von dem Haus fern.«
»Natürlich«, sagte Tamaru. »Unser Leben steht ständig auf Messers Schneide. Man kann nicht vorsichtig genug sein.«
»Ob der Wasserkopf wusste, dass ich mich hier versteckt halte?«
»Wenn, dann wärst du jetzt irgendwo, wo ich nicht mehr an dich herankäme.«
»Aber er war mir auf den Fersen.«
»Ja, aber ich glaube, es war irgendein Zufall, der ihn in die Nähe deines Hauses geführt hat. Anders kann ich es mir nicht erklären.«
»Deshalb hat er sich so schutzlos auf der Rutschbahn präsentiert, direkt vor meiner Nase.«
»Er hatte keine Ahnung, dass du ihn siehst. Er hat überhaupt nicht damit gerechnet. Und das wurde ihm zum Verhängnis«, sagte Tamaru. »Ich sage es doch: Das Leben eines Menschen steht ständig auf Messers Schneide.«
Ein paar Sekunden lang herrschte Stille. Es war eine schwere Stille, wie sie allein der Tod eines Menschen – jedes Menschen – hervorruft.
»Der Wasserkopf ist fort, aber die Vorreiter sind noch immer hinter mir her.«
»Da ist noch etwas, das ich nicht verstehe«, sagte Tamaru. »Am Anfang wollten diese Leute dich unbedingt schnappen, um herauszufinden, welche Organisation hinter der Ermordung des Leaders steckt. Unmöglich, dass du das alles allein ausgeheckt hattest. Es war ihnen völlig klar, dass es Hintermänner geben musste. Hätten sie dich erwischt, hätten sie dich bestimmt einem gnadenlosen Verhör unterzogen.«
»Deshalb brauchte ich die Pistole«, sagte Aomame.
»Der Wasserkopf nahm das natürlich auch an«, fuhr Tamaru fort. »Er dachte, die Sekte verfolge dich, um dich zu verhören und zu bestrafen. Doch aus irgendeinem Grund haben sich im Verlauf der Ereignisse die Umstände völlig gewandelt. Nachdem der Wasserkopf von der Bühne abgetreten ist, habe ich mit einem von denen telefoniert. Er sagte, ich solle dir bestellen, sie hätten jetzt nicht mehr die Absicht, dir irgendetwas anzutun. Natürlich könnte das eine Falle sein. Aber für mich hörte es sich ziemlich ernst gemeint an. Der Leader habe seinen Tod gewissermaßen selbst gewollt, hat mir der Mann erklärt. Es sei sozusagen eine Art Selbstmord gewesen, somit gebe es keine Notwendigkeit, dich zu bestrafen.«
»Es stimmt«, sagte Aomame mit trockener Kehle. »Der Leader wusste von Anfang an, dass ich gekommen war, um ihn zu töten. Und er wollte
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