1Q84: Buch 3
muss er seine Habseligkeiten denn tragen?«
»Weit«, sagte Aomame.
»Wie weit?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Aomame.
»Also gut. Sobald ich die Erlaubnis von Madame habe, überbringe ich Tengo Kawana deine Nachricht. Und ich werde, so gut ich kann, für deine Sicherheit sorgen. Auf meine Weise. Aber du weißt, es bleibt gefährlich. Unsere Sektenfreunde scheinen ziemlich verzweifelt zu sein. Letztendlich kannst nur du selbst dich schützen.«
»Das ist mir klar«, sagte Aomame ruhig. Ihre Hand ruhte noch immer auf ihrem Unterleib. Es geht nicht nur um mich , dachte sie.
Nachdem sie aufgelegt hatten, ließ Aomame sich auf das Sofa fallen. Sie schloss die Augen und dachte an Tengo. An etwas anderes konnte sie nicht mehr denken. Ihre Brust schmerzte, aber es war ein angenehmer Schmerz, den sie für immer hätte ertragen können. Tengo lebte wirklich ganz in ihrer Nähe . Zu Fuß nicht einmal zehn Minuten entfernt. Allein dieser Gedanke erwärmte sie bis in ihr Innerstes. Er war unverheiratet und unterrichtete Mathematik an einer Yobiko. Er wohnte in einer bescheidenen, aber aufgeräumten Wohnung, kochte, bügelte und schrieb an einem Roman. Aomame beneidete Tamaru. Wie gern wäre sie selbst in Tengos Wohnung eingebrochen! Hätte sich umgeschaut, als er nicht da war. In der verlassenen Stille jeden einzelnen Gegenstand berührt. Die Spitzen der Bleistifte, die er verwendete, geprüft, seinen Kaffeebecher in die Hand genommen und den Geruch seiner Kleidung eingeatmet. Wie gern hätte sie, bevor sie ihm wirklich begegnete, diese Phase durchlaufen.
Aomame hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, wenn sie plötzlich und ohne diesen Übergang mit ihm allein wäre. Allein bei der Vorstellung beschleunigte sich ihre Atmung, und sie fühlte sich ganz benommen im Kopf. Sie hatte ihm so viel zu sagen. Zugleich ahnte sie, dass es im entscheidenden Moment gar nicht nötig sein würde, etwas zu sagen. Wahrscheinlich würde das, was sie sagen wollte, seinen Sinn verlieren, sobald sie es in Worte fasste.
Jedenfalls konnte Aomame momentan nicht mehr tun als warten. Die Augen aufhalten und warten. Damit sie, sobald sie Tengo sah, sofort hinauslaufen konnte und nicht noch einmal zurückkommen musste, packte sie alles, was sie brauchte, in ihre große schwarze Umhängetasche. Viel war es nicht. Das Bündel Geldscheine, Kleidung zum Wechseln, die geladene Heckler & Koch. Das war alles. Die Tasche legte sie griffbereit. Sie nahm ihr Kostüm von Junko Shimada aus dem Schrank und hängte es, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es nicht zerknittert war, an die Wand im Wohnzimmer. Auch ihre weiße Bluse, eine Strumpfhose und die hohen Schuhe von Charles Jourdan legte sie sich zurecht. Und den beigen Frühjahrsmantel. Die gleiche Garderobe hatte sie getragen, als sie die Treppe von der Stadtautobahn Nr. 3 zum ersten Mal hinuntergestiegen war. Der Mantel war für einen Dezemberabend etwas zu dünn, aber eine andere Wahl hatte sie nicht.
Nachdem sie ihre Vorbereitungen getroffen hatte, ließ sie sich in den Gartenstuhl auf dem Balkon fallen und schaute durch den Spalt in den Sichtblenden auf die Rutschbahn im Park. Sonntagnacht war Tengos Vater gestorben. Soweit sie wusste, mussten nach dem Tod eines Menschen mindestens vierundzwanzig Stunden vergehen, bevor man ihn einäschern durfte. Es gab wohl so ein Gesetz. Sie rechnete nach. Die Verbrennung konnte nicht vor Dienstag stattfinden. Heute war Dienstag. Wenn sie heute stattfand, würde Tengo frühestens am Abend zurück sein. Erst dann konnte Tamaru ihm ihre Botschaft überbringen. Unmöglich, dass Tengo früher in den Park kam. Außerdem war es noch hell.
Kurz vor seinem Tod hat der Leader dafür gesorgt, dass das Kleine sich in meiner Gebärmutter einnistet. Vermute ich. Oder sagt mir meine Intuition. Aber heißt das nicht auch, dass ich vom Willen eines Toten manipuliert werde und auf ein von ihm vorgegebenes Ziel zusteuere?
Aomame runzelte die Stirn. Sie gelangte einfach zu keinem Schluss. Tamaru nahm an, dass sie nach dem Plan des Leaders ein Geschöpf empfangen hatte, das imstande war, »die Stimmen zu hören«. Vielleicht diente sie als »Puppe aus Luft«. Aber warum hatte er ausgerechnet sie dazu ausersehen? Und warum Tengo Kawana? Es gab so vieles, das sie sich nicht erklären konnte.
Eine Menge Dinge haben sich in meinem Umfeld ereignet, deren Zusammenhang ich nicht verstehe. Ich begreife nicht, welches Prinzip ihnen zugrunde liegt oder in welche Richtung sie
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