1Q84: Buch 3
Unterschlupf fanden, falls sie selbst keinen sicheren Ort kannten, fragte er mit einer Miene herzlichster Anteilnahme am Schicksal jener, die wie Blätter von einem gnadenlosen Sturm vom Baum gerissen und davongetrieben wurden.
»Für solche Fälle halten wir mehrere sichere Unterkünfte bereit«, sagte der junge Anwalt.
»So etwas wie Frauenhäuser, ja?«
»Ja, Wohnraum, in dem wir die Frauen zeitweise unterbringen können. Viel ist es nicht, aber es gibt doch immer ein paar Freiwillige, die uns etwas zur Verfügung stellen. Zum Beispiel haben wir von einer Person ein ganzes Haus bekommen.«
»Ein ganzes Haus!« Ushikawa zeigte sich gebührend beeindruckt. »Dass es auf der Welt noch solche Menschen gibt.«
»Wenn die Presse über unsere Aktivitäten berichtet, melden sich öfter Leute, die uns unterstützen möchten. Ohne sie könnte unsere Organisation nicht überleben. Denn wir bestreiten unsere Aktivitäten fast ausschließlich aus eigener Tasche.«
»Sie leisten sehr bedeutende Arbeit«, sagte Ushikawa.
Auf dem Gesicht des jungen Anwalts erschien ein argloses Lächeln. Wieder einmal dachte Ushikawa, dass niemand so leicht zu betrügen war wie Menschen, die davon überzeugt waren, das Richtige zu tun.
»Wie viele Frauen leben denn augenblicklich in dem Haus?«
»Ihre Zahl variiert, aber meistens sind es vier oder fünf.«
»Wie ist denn die Person, die das Haus zur Verfügung stellt, an Ihr Projekt gelangt?«, fragte Ushikawa. »Da gab es doch sicher einen Anlass, nicht wahr?«
Der Anwalt zuckte mit den Schultern. »Darüber sind wir im Einzelnen nicht informiert. Sie scheint allerdings schon früher auf diesem Gebiet aktiv gewesen zu sein. Jedenfalls sind wir ihr sehr dankbar für die großzügige Spende. Wenn die betreffende Person ihre Gründe nicht von selbst nennt, fragen wir auch nicht.«
»Gewiss.« Ushikawa nickte. »Wahrscheinlich muss der Standort auch mehr oder weniger geheim bleiben, nicht wahr?«
»Ja, die Frauen müssen natürlich geschützt werden. Außerdem möchten auch viele freiwillige Helfer anonym bleiben. Immerhin haben wir es hier mit gewalttätigem Verhalten zu tun.«
Sie setzten das Gespräch noch eine Weile fort, aber Ushikawa bekam nicht mehr viel Konkretes aus dem Anwalt heraus. Alles Folgende hatte er im Großen und Ganzen bereits gewusst. Die Beratungsstelle war vor etwa vier Jahren eröffnet worden, und die »Freiwillige« hatte sich wenig später auf einen Zeitungsartikel hin gemeldet und ein leerstehendes Gebäude als Frauenhaus zur Verfügung gestellt. Zur Bedingung hatte sie gemacht, dass ihr Name nicht genannt wurde, aber alles wies darauf hin, dass es sich bei der Spenderin um die alte Dame aus Azabu und bei dem Frauenhaus um das Holzgebäude in ihrem Besitz handelte.
»Ich danke Ihnen sehr, dass Sie mir so viel von Ihrer kostbaren Zeit gewidmet haben«, sagte Ushikawa in herzlichem Ton zu den idealistischen jungen Leuten. »Offenbar leisten Sie hier ganz hervorragende Arbeit. Wenn Sie erlauben, werde ich dies bei unserer nächsten Vorstandssitzung zur Sprache zu bringen und mich baldmöglichst wieder mit Ihnen in Verbindung setzen. Ich wünsche Ihnen noch viel Erfolg.«
Ushikawas weitere Nachforschungen galten der verstorbenen Tochter der alten Dame. Die junge Frau hatte einen hohen Beamten aus dem Verkehrsministerium geheiratet und war bei ihrem Tod erst sechsunddreißig Jahre alt gewesen. Was die genaue Todesursache gewesen war, konnte er nicht herausfinden. Ihr Mann hatte bald nach ihrem Dahinscheiden das Verkehrsministerium verlassen. Warum er so plötzlich seine vielversprechende Laufbahn aufgegeben und welchen Weg er danach eingeschlagen hatte, lag im Dunkeln. Vielleicht hatte der Rücktritt von seinem Amt etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun, vielleicht aber auch nicht. Das Verkehrsministerium war keine Behörde, die einem Normalbürger bereitwillig Einblick in ihre Interna gewährte. Aber Ushikawa verließ sich auf seinen guten Riecher, und irgendetwas stimmte da nicht. Er konnte einfach nicht glauben, dass ein solcher Mann aus Kummer über den Verlust seiner Frau auf seine Karriere verzichtete und sich völlig aus der Öffentlichkeit zurückzog.
Ushikawa wusste, dass die Zahl der Frauen, die mit sechsunddreißig Jahren an einer Krankheit starben, nicht besonders hoch war. Natürlich gab es nichts, was es nicht gab. Menschen konnten in jedem Alter plötzlich erkranken und sterben, ganz gleich, in welchen gesegneten Umständen sie auch lebten.
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