1Q84: Buch 3
Gartenstuhl auf dem Balkon. Durch den Spalt in der Verkleidung, die sie vor fremden Blicken schützte, beobachtete sie wie immer den Spielplatz. Auf der Bank unter dem Keyaki-Baum saß ein Pärchen in Oberschuluniform und unterhielt sich mit ernsthafter Miene. Zwei junge Mütter ließen ihre Kleinkinder im Sandkasten spielen. Ohne sie aus den Augen zu lassen, plauderten sie angeregt. Eine nachmittägliche Szene, wie sie sich in jedem Park hätte abspielen können. Aomame konzentrierte ihren Blick lange auf die leere Rutschbahn.
Dann legte sie sich die Hände auf den Bauch. Sie schloss die Lider und lauschte, versuchte eine Stimme zu vernehmen. Ganz ohne Zweifel war dort etwas. Ein lebendiges kleines Etwas. Das wusste sie.
»Daughter«, sagte sie leise.
»Mother«, antwortete etwas.
Kapitel 9
Tengo
Solange der Ausgang nicht versperrt ist
Die vier waren in einem Grillrestaurant gewesen und dann in eine Karaoke-Bar weitergezogen, wo sie eine Flasche Whiskey leerten. Ihr gemütliches, aber übermütiges Beisammensein endete noch vor zehn Uhr. Als sie die Bar verließen, begleitete Tengo Schwester Adachi zu ihrer Wohnung. Die beiden anderen Frauen waren umstandslos in einen Bus gestiegen, der ganz in der Nähe fuhr und sie zum Bahnhof brachte. Tengo und Schwester Adachi gingen seit etwa einer Viertelstunde durch die leeren Straßen.
»Tengo, Tengo, Tengo«, sagte Schwester Adachi, als würde sie ein Lied singen. »Schöner Name. Tengo. Und irgendwie leicht auszusprechen.«
Die junge Krankenschwester hatte dem Alkohol offenbar kräftig zugesprochen, aber weil sie immer so rote Wangen hatte, sah man es ihr nicht an. Sie lallte oder torkelte nicht. Im Gegenteil, sie wirkte überhaupt nicht betrunken. Aber die Menschen werden auf verschiedene Art betrunken.
»Ich fand meinen Namen immer seltsam«, sagte Tengo.
»Er ist überhaupt nicht seltsam. Tengo. Und auch leicht zu merken. Ein ganz toller Name.«
»Wo wir gerade davon sprechen. Ich weiß noch gar nicht, wie du mit Vornamen heißt. Die anderen nennen dich ja immer bloß Ku.«
»Das ist eine Abkürzung. Ich heiße Kumi Adachi. Klingt ziemlich langweilig, oder?«
»Kumi Adachi«, sagte Tengo versuchsweise. »Ist doch nicht schlecht. Kompakt und schnörkellos.«
»Besten Dank«, sagte Kumi Adachi. »Das klingt irgendwie nach einem Honda Civic.«
»Ich hatte es aber positiv gemeint.«
»Weiß ich. Außerdem bin ich ja auch günstig im Verbrauch«, sagte sie und nahm Tengos Hand. »Ich darf doch, ja? So zu gehen macht mehr Spaß und ist irgendwie nett.«
»Natürlich«, sagte Tengo. Als Kumi Adachi seine Hand nahm, musste er an das Klassenzimmer in der Grundschule und an Aomame denken. Ein ganz anderes Gefühl. Und doch gab es Gemeinsamkeiten.
»Ich bin ziemlich beschwipst«, sagte Kumi Adachi.
»Wirklich?«
»Ja, wirklich.«
Tengo musterte sie noch einmal von der Seite. »Das merkt man dir gar nicht an.«
»Nicht äußerlich. Das liegt an meiner Konstitution. Aber ich bin trotzdem ziemlich blau.«
»Du hast ja auch ganz schön gebechert.«
»Stimmt. So viel habe ich schon lange nicht mehr getrunken.«
»Manchmal braucht man das«, wiederholte Tengo Schwester Tamuras Worte.
»Klar.« Kumi Adachi nickte nachdrücklich. »Manchmal braucht der Mensch so was. Nach Herzenslust futtern, bechern, singen und Blödsinn reden. Aber machst du das denn überhaupt manchmal? So ganz aus dir herausgehen? Mir kommst du immer sehr gesetzt und vernünftig vor.«
Tengo überlegte. Hatte er in letzter Zeit etwas unternommen, um Dampf abzulassen? Er konnte sich nicht erinnern. Also hatte es da wohl nichts gegeben. Wahrscheinlich fehlte ihm die Neigung zum Dampfablassen an sich.
»So gut wie nie«, gab Tengo zu.
»Die Menschen sind eben verschieden, oder?«
»Ja, sie denken und fühlen verschieden.«
»Und werden auf verschiedene Arten betrunken«, sagte Schwester Adachi und kicherte. »Aber so was braucht der Mensch. Du auch.«
»Kann sein«, sagte Tengo.
Eine Weile gingen die beiden wortlos Hand in Hand durch die nächtlichen Straßen. Der Wechsel in ihrem Umgangston beunruhigte Tengo ein wenig. In ihrer Schwesterntracht war Kumi Adachi wesentlich zurückhaltender. Aber in Zivil äußerte sie sich – vielleicht auch eine Folge des Alkohols – plötzlich viel freier. Ihr vertraulicher Ton erinnerte Tengo an jemanden. Irgendjemand sprach so ähnlich. Jemand, den er vor verhältnismäßig kurzer Zeit getroffen hatte.
»Du, Tengo? Hast du schon mal Haschisch
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