1Q84: Buch 3
Die Puppe aus Luft . Kumi Adachi konnte nicht wissen, dass der Text eigentlich von ihm stammte. Aber das spielte keine Rolle. Worauf es ankam, war, dass er selbst, obwohl er die Puppe aus Luft ja konkret und in allen Einzelheiten beschrieben hatte, fast nichts darüber wusste. Auch was Mother und Daughter bedeuteten, hatte er, als er an Die Puppe aus Luft gearbeitet hatte, ebenso wenig gewusst wie jetzt. Dennoch gefiel das Buch Kumi Adachi so sehr, dass sie es bereits dreimal gelesen hatte. Wie war so etwas möglich?
Als über das Frühstück im Speisewagen berichtet wurde, kam Kumi Adachi zurück und setzte sich neben Tengo auf das Sofa. Weil es ziemlich klein war, saßen sie Schulter an Schulter. Sie trug jetzt ein weites Hemd mit langen Ärmeln und eine helle Baumwollhose. Auf dem Hemd war ein großer Smiley, wie ihn Tengo zuletzt Anfang der siebziger Jahre gesehen hatte, als die lautesten Songs von Grand Funk Railroad die Jukeboxes erschüttert hatten. Allerdings schien das Hemd so alt nicht zu sein. Anscheinend wurden die Dinger noch immer irgendwo hergestellt.
Kumi Adachi nahm eine frische Bierdose aus dem Kühlschrank, öffnete sie mit einem lauten Knacken und leerte etwa ein Drittel in einem Zug. Sie kniff die Augen zusammen wie eine zufriedene Katze. Dann zeigte sie auf den Bildschirm. Der Zug fuhr gerade auf sich endlos erstreckenden Schienen zwischen gewaltigen roten Felsen hindurch.
»Wo ist das?«
»In Australien«, sagte Tengo.
»Australien«, sagte Kumi Adachi, als würde sie in ihrem Gedächtnis kramen. »Australien, in der südlichen Hemisphäre?«
»Ja. Das Australien mit den Kängurus.«
»Eine Freundin von mir war schon mal dort«, sagte Kumi Adachi, während sie sich die Augenwinkel rieb. »Es war gerade Paarungszeit, und sie hat erzählt, in irgendeiner Stadt, in der sie war, hätten sich überall die Kängurus gepaart. Im Park, auf der Straße, egal wo.«
Tengo glaubte, irgendeine Bemerkung dazu machen zu müssen, aber es wollte ihm nichts Passendes einfallen. Also nahm er die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Plötzlich herrschte tiefe Stille im Raum. Auch der Fernseher in der Nachbarwohnung war nicht mehr zu hören. Hin und wieder fuhr auf der Straße ein Auto vorbei, aber sonst war es eine ruhige Nacht. Erst als er angestrengt lauschte, hörte er von ferne ein gedämpftes Geräusch. Er wusste nicht, was es war, aber es hatte einen regelmäßigen Rhythmus. Manchmal verstummte es, setzte aber bald wieder von neuem ein.
»Das ist eine Eule. Sie lebt in einem Wäldchen in der Nähe. Nachts ruft sie«, sagte die Krankenschwester.
»Eine Eule«, wiederholte Tengo unbestimmt.
Kumi Adachi legte ihren Kopf an seine Schulter und nahm wortlos seine Hand. Ihre Haare kitzelten seinen Hals. Das Sofa war immer noch unbequem. Der Ruf der Eule im nahen Wäldchen klang bedeutungsvoll in Tengos Ohren – ermutigend und warnend zugleich. Eine ermutigende Warnung, eine warnende Ermutigung? Sehr zweideutig.
»Findest du mich zu forsch?«, fragte Kumi Adachi.
Tengo antwortete nicht darauf. »Hast du keinen Freund?«
»Das ist ein echtes Problem«, sagte Kumi Adachi mit bekümmerter Miene. »Nach der Schulzeit sind die ganzen guten Jungs nach Tokio gegangen. Hier gibt es eben keine angesehenen Unis und keine guten Stellen. Nichts zu machen.«
»Aber du bist hiergeblieben.«
»Ja. Mein Gehalt ist nicht besonders, und ich muss verhältnismäßig viel dafür tun, aber dafür lebe ich gern hier. Es ist eben nur nicht so leicht, einen Freund zu finden. Ich gehe schon mal mit jemandem aus, wenn ich Gelegenheit habe, aber bisher habe ich niemanden kennengelernt, der ernsthaft in Frage kam.«
Die Zeiger der Wanduhr standen auf kurz vor elf Uhr. Um elf schloss die Pension. Aber Tengo schaffte es einfach nicht, sich von dem unbequemen Sofa hochzurappeln. Ihm fehlte einfach die Energie dazu. Vielleicht lag es an der Form des Möbels. Oder er war betrunkener, als er angenommen hatte. Er starrte ins Licht der nachgemachten Tiffanylampe und lauschte matt dem Ruf der Eule, während Kumi Adachis Haare seinen Hals kitzelten.
Ein fröhliches Liedchen summend, widmete die junge Krankenschwester sich den Vorbereitungen. Sie schabte mit einer Rasierklinge bonitoflockenfeine Scheibchen von dem schwarzen Stückchen Haschisch, stopfte eine spezielle kleine Pfeife damit und riss dann mit ernstem Blick ein Streichholz an. Kumi Adachi nahm einen tiefen Zug, behielt ihn lange in der Lunge und atmete dann
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