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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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fern und stockend. Aber es gab keinen Zweifel, dass es seine war.
    »Ich wollte dich auch sehen«, sagte das Mädchen. Ihre Stimme ähnelte der von Kumi Adachi. Die Grenze zwischen Wirklichkeit und Vorstellung war nicht mehr zu erkennen. Wenn er sie zu ziehen versuchte, verlor er die Balance, und seine Gehirnmasse schwappte.
    »Ich hätte viel früher anfangen sollen, dich zu suchen. Aber ich konnte nicht«, sagte Tengo.
    »Es ist noch nicht zu spät. Du kannst mich immer noch finden«, sagte das Mädchen.
    »Was muss ich tun?«
    Keine Antwort. Die Antwort war nicht in Worte zu fassen.
    »Aber ich kann dich finden«, sagte Tengo.
    »Denn auch ich konnte dich finden«, sagte das Mädchen.
    »Du hast mich gefunden?«
    »Finde mich«, sagte das Mädchen. »Solange noch Zeit ist.«
    Die weißen Gardinen flatterten geräuschlos im Wind wie Geister auf einer Flucht in letzter Minute. Sie waren das Letzte, was Tengo sah.
     
    Unversehens fand er sich auf einem schmalen Bett wieder. Das Licht war aus, nur die Straßenbeleuchtung, die durch einen Spalt in den Vorhängen fiel, erhellte schwach den Raum. Er hatte T-Shirt und Boxershorts an. Kumi Adachi trug nur noch das Smiley-Hemd und keine Unterwäsche. Ihre weichen Brüste berührten seinen Arm. In Tengos Kopf ertönte noch immer der Ruf der Eule. Sogar der nächtliche Wald war in ihm. Er hatte ihn vollständig in sein Inneres aufgenommen.
    Obwohl er mit der jungen Krankenschwester im Bett lag, verspürte Tengo keine sexuelle Erregung. Auch Kumi Adachi wirkte nicht besonders begehrlich. Sie legte nur den Arm um ihn und kicherte. Er begriff nicht, was so komisch war. Vielleicht hatte jemand ein Schild hochgehalten, auf dem »Lachen« stand.
    Wie viel Uhr mochte es sein? Er hob den Kopf, um auf die Uhr zu schauen, aber es gab keine. Kumi Adachi hörte plötzlich auf zu lachen und schlang nun beide Arme um Tengos Hals.
    »Ich wurde wiedergeboren.« Kumi Adachis warmer Atem berührte sein Ohr.
    »Wiedergeboren«, sagte Tengo.
    »Ja, weil ich schon einmal gestorben bin.«
    »Weil du gestorben bist«, wiederholte Tengo.
    »Es war in einer kalten, regnerischen Nacht«, sagte sie.
    »Und wieso bist du gestorben?«
    »Um wiedergeboren zu werden.«
    »Wiedergeboren«, sagte Tengo.
    »Mehr oder weniger«, flüsterte sie sehr leise. »In anderer Gestalt.«
    Tengo dachte über diese Aussage nach. Was es wohl bedeutete mehr oder weniger, in anderer Gestalt wiedergeboren worden zu sein ? Seine Gehirnmasse war schwer, zäh und randvoll mit keimendem Leben wie die Ursuppe. Aber sie brachte ihn auch nicht weiter.
    »Woher kommt die Puppe aus Luft?«
    »Falsche Frage«, sagte Kumi Adachi. »Hoho.«
    Sie legte sich auf Tengo. Er konnte ihre Schamhaare auf seinem Oberschenkel spüren. Dichtes, kräftiges Schamhaar. Es war, als sei es ein Teil ihrer Gedanken.
    »Braucht man etwas, um wiedergeboren zu werden?«, fragte Tengo.
    »Das Wichtigste dabei«, sagte die zierliche Krankenschwester, als würde sie ihm ein Geheimnis anvertrauen, »ist, dass ein Mensch nicht um seiner selbst willen wiedergeboren werden kann. Nur für jemand anderen.«
    »Ist das die Bedeutung von mehr oder weniger, in anderer Gestalt ?«
    »Wenn der Morgen graut, musst du von hier fort, Tengo. Solange der Ausgang noch nicht versperrt ist.«
    »Wenn der Morgen graut, muss ich von hier fort«, wiederholte Tengo die Worte der Krankenschwester.
    Sie rieb noch einmal ihr dichtes Schamhaar an Tengos Oberschenkel. Als wolle sie dort irgendein Zeichen hinterlassen. »Die Puppe aus Luft kommt nicht mehr. Ganz gleich, wie lange du noch wartest.«
    »Woher weißt du das?«
    »Weil ich schon einmal tot war«, sagte sie. »Sterben tut weh. Viel weher, als du ahnst. Und es ist unendlich einsam. So einsam, man kann sich nur wundern, dass ein Mensch so einsam werden kann. Das solltest du dir merken. Aber schließlich gibt es ohne Tod auch keine Wiedergeburt.«
    »Ohne Tod gibt es keine Wiedergeburt«, bestätigte Tengo.
    »Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.«
    »Mitten im Leben vom Tod umfangen«, wiederholte Tengo, ohne den Sinn der Worte richtig zu verstehen.
    Die weißen Vorhänge wehten noch immer im Wind. In die Luft im Klassenzimmer mischte sich der Geruch nach Tafelschwamm und Reinigungsmittel. Und der Geruch von brennendem Herbstlaub. Jemand übte Blockflöte. Das Mädchen drückte fest seine Hand. Tengo verspürte ein süßes Ziehen im Unterleib. Aber er hatte keine Erektion. Das würde erst später kommen. Die Wörter viel

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