1Q84: Buch 3
später verhießen ihm eine Ewigkeit. Die Ewigkeit war eine sich endlos erstreckende lange Linie. Wieder verlor er die Balance, und seine Gehirnmasse schwappte träge.
Als Tengo aufwachte, wusste er einen Moment lang nicht, wo er war. Er brauchte einige Zeit, um sich die Ereignisse der vergangenen Nacht ins Gedächtnis zu rufen. Grell schien die Morgensonne durch einen Spalt in den geblümten Vorhängen, und lebhaftes Vogelgezwitscher ertönte. Er fühlte sich grauenhaft steif nach der Nacht in dem engen Bett. Er hatte sich die ganze Nacht kaum gerührt. Neben ihm lag eine Frau und schlief fest. Sie hatte den Kopf seitlich auf das Kissen gelegt. Haare breiteten sich über ihre Wange wie frisches, taufeuchtes Sommergras. Kumi Adachi, dachte Tengo. Die junge Krankenschwester, die gerade erst dreiundzwanzig geworden war. Seine Armbanduhr lag auf dem Boden neben dem Bett. Ihre Zeiger standen auf sieben Uhr zwanzig. Es war Morgen.
Tengo stand leise auf, um Kumi Adachi nicht zu wecken, und spähte durch den Spalt in den Vorhängen ins Freie. Sein Blick fiel auf das Feld mit seinen Reihen von Kohlköpfen, die sich jeder für sich tief in die schwarze Erde duckten. Jenseits davon lag das Wäldchen. Tengo fiel der Ruf der Eule ein. Dort hatte sie gestern die Weisheit der Nacht verkündet. Er und die Krankenschwester hatten Haschisch geraucht und ihr gelauscht. Er spürte noch immer das kratzige Gefühl ihres Schamhaars auf seinem Oberschenkel.
Tengo ging in die Küche. Er drehte den Wasserhahn auf und trank aus der hohlen Hand. Er konnte trinken, soviel er wollte, sein Durst schien unstillbar. Ansonsten fühlte er sich völlig normal. Keine Kopfschmerzen und auch keine Mattigkeit. Sein Bewusstsein war klar. Er hatte nur das Gefühl, irgendwie durchgepustet worden zu sein. Als habe man seine Rohrleitungen fachmännisch gereinigt. Noch immer in T-Shirt und Boxershorts, ging er ins Bad und urinierte lange. Das Gesicht, das ihm aus dem fremden Spiegel entgegensah, erschien ihm nicht wie sein eigenes. Die Haare standen in alle Richtungen vom Kopf. Und eine Rasur tat auch not.
Er sammelte seine zwischen Kumis Sachen auf dem Fußboden des Schlafzimmers verstreuten Kleider ein. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie sich ausgezogen hatten. Er fand seine Socken, zog Jeans und Hemd an. Dabei trat er auf einen großen billigen Ring. Er hob ihn auf und legte ihn auf das Tischchen neben dem Bett. Er zog seinen Pullover mit dem runden Ausschnitt über den Kopf. Dann nahm er seinen Anorak und vergewisserte sich, ob das Portemonnaie und die Schlüssel noch in den Taschen waren. Die Krankenschwester hatte sich die Decke bis fast über die Ohren gezogen und schlief tief und fest. Nicht einmal ihr Atem war zu hören. Ob er sie wecken sollte? Zumindest war er fast sicher, dass zwischen ihnen nichts passiert war. Dennoch hatte er die Nacht in einem Bett mit ihr verbracht. Es wäre ziemlich unhöflich gewesen, einfach zu verschwinden, ohne sich zu verabschieden. Andererseits schlief sie so tief. Außerdem hatte sie gesagt, es sei ihr freier Tag. Und wenn er sie weckte, was sollten sie dann machen?
Neben dem Telefon entdeckte er einen Block und einen Kugelschreiber. Er schrieb: »Danke für den schönen Abend. Ich fahre jetzt in meine Pension. Tengo« . Er fügte noch die Uhrzeit hinzu. Den Zettel legte er auf das Tischchen neben dem Bett und benutzte den Ring als Briefbeschwerer. Dann stieg er in seine abgewetzten Turnschuhe und verließ die Wohnung.
Als er ein Stück die Straße entlanggegangen war, stieß er auf eine Bushaltestelle. Fünf Minuten später kam ein Bus, der zum Bahnhof fuhr. Er stieg ein und fuhr gemeinsam mit ein paar übermütigen Oberschülern und -schülerinnen zur Endstation. Seine Wirtin enthielt sich jeder Bemerkung, obwohl er erst nach acht Uhr morgens und mit Bartstoppeln im Gesicht nach Hause kam. Sie schien das nicht ungewöhnlich zu finden und servierte ihm kommentarlos und routiniert das Frühstück.
Während er die noch heißen Speisen verzehrte und grünen Tee trank, ließ er den vergangenen Abend Revue passieren. Auf Vorschlag der drei Krankenschwestern hatten sie zu viert ein Grillrestaurant besucht. Anschließend waren sie in eine Karaoke-Bar gegangen, um zu singen. Er hatte Kumi Adachi in ihre Wohnung begleitet und zum Schrei einer Eule indisches Haschisch geraucht, worauf seine Gehirnmasse sich wie Reisbrei angefühlt hatte. Auf einmal war er im Klassenzimmer seiner Grundschule gewesen, hatte seinen
Weitere Kostenlose Bücher