1Q84: Buch 3
denken konnten, anderen nicht zuhörten.
Jedenfalls waren Ushikawas Tage in der Grundschule nicht gerade eine Zeit, auf die er gern zurückblickte. Allein der Gedanke, eine Grundschule aufsuchen zu müssen, verdarb ihm die Laune. Ob in Saitama oder Chiba, sämtliche Grundschulen in ganz Japan glichen sich. Sie sahen genauso aus und funktionierten nach den gleichen Prinzipien. Dennoch machte sich Ushikawa zu dieser Grundschule in Ichikawa auf. Diese Mission war zu wichtig, um sie jemand anderem zu überlassen. Er rief im Sekretariat an und vereinbarte einen Termin für 13 Uhr 30.
Die Vizerektorin war eine zierliche Mittvierzigerin. Sie war schlank, sah gut aus und hatte ein adrettes Äußeres. Vizerektorin? Ushikawa schüttelte den Kopf. Diesen Titel hatte er noch nie gehört. Allerdings lag seine Grundschulzeit schon sehr lange zurück, und seit damals hatte sich sicherlich viel verändert. Seine Gesprächspartnerin hatte gewiss schon mit den verschiedensten Menschen zu tun gehabt und ließ beim Anblick von Ushikawas schwerlich als normal zu bezeichnender Erscheinung kein besonderes Erstaunen erkennen. Vielleicht war sie einfach nur höflich. Sie führte ihn in einen reinlichen Empfangsraum und nahm, nachdem sie ihm einen Stuhl angeboten hatte, ihm gegenüber Platz. Sie lächelte freundlich, wie in Erwartung eines freundlichen Plauderstündchens.
Sie erinnerte Ushikawa an ein Mädchen, das in der Grundschule in seiner Klasse gewesen war. Hübsch, gute Noten, sympathisch und gewissenhaft. Sie war sehr wohlerzogen und spielte gut Klavier. Auch bei den Lehrern war sie beliebt. Ushikawa hatte das Mädchen während des Unterrichts häufig beobachtet. Meistens von hinten. Gesprochen hatte er kein einziges Mal mit ihr.
»Sie haben also Fragen zu einem ehemaligen Schüler?«, fragte die stellvertretende Schulleiterin.
»Ach, entschuldigen Sie, fast hätte ich es versäumt«, sagte Ushikawa und reichte ihr seine Visitenkarte. Es war die mit dem Titel »Generaldirektor der Stiftung zur Förderung der neuen japanischen Wissenschaften und Künste «, die er auch Tengo gegeben hatte. Ushikawa tischte der Vizerektorin in etwa die gleiche Geschichte auf. Dass Tengo Kawana, ein ehemaliger Schüler der Schule, als angehender Schriftsteller Kandidat für ein Stipendium der Stiftung sei und er einige allgemeine Erkundigungen über ihn einziehe.
»Das ist ja wunderbar«, sagte die Vizerektorin und lächelte erfreut. »Eine große Ehre für unsere Schule. Wir werden gern unser Möglichstes beitragen.«
»Ich dachte, ich könnte vielleicht mit den Lehrern sprechen, die Herrn Kawana damals unterrichtet haben«, sagte Ushikawa.
»Dann wollen wir mal nachsehen. Das ist jetzt zwanzig Jahre her, also sind die meisten wahrscheinlich schon im Ruhestand.«
»Danke sehr«, sagte Ushikawa. »Und könnten Sie wohl freundlicherweise noch etwas für mich nachschauen?«
»Worum handelt es sich?«
»Im gleichen Jahrgang muss es ein Mädchen namens Masami Aomame gegeben haben. Könnten Sie herausfinden, ob Herr Kawana und Fräulein Aomame eventuell in einer Klasse gewesen sind?«
Die Vizerektorin machte ein skeptisches Gesicht. »Hat Fräulein Aomame etwas mit diesem Stipendium für Herrn Kawana zu tun?«
»Nein, nicht direkt. Allerdings wird in dem Werk, das Herr Kawana verfasst hat, eine Person geschildert, für die Fräulein Aomame offenbar als Vorbild gedient hat. Wir finden nur, dass wir diesbezüglich einiges klären müssen. Es ist keine komplizierte Sache. Letztlich geht es nur um eine Formalität.«
»Ich verstehe«, sagte die Vizerektorin und lächelte charmant. »Allerdings werden sie sicher verstehen, dass wir keine Informationen weitergeben können, die die Privatsphäre betreffen. Noten zum Beispiel oder die familiären Umstände.«
»Dessen bin ich mir natürlich bewusst. Wir möchten nur wissen, ob sie und Herr Kawana tatsächlich in einer Klasse waren. In diesem Fall wären wir sehr dankbar, wenn Sie uns Namen und Adresse des damaligen Klassenlehrers mitteilen würden.«
»Einverstanden. In diesem Rahmen ist das wohl kein Problem. Aomame, sagten Sie?«
»Ja, man schreibt es wie ›grün‹ und ›Erbse‹. Ein einmaliger Name.«
Ushikawa schrieb den Namen Masami Aomame mit Kugelschreiber auf ein Blatt aus seinem Notizbuch und reichte es der Vizerektorin. Nachdem sie einen Blick darauf geworfen hatte, legte sie es in eine Mappe auf dem Tisch.
»Würden Sie einen Moment warten? Ich werde im Register nachschauen und
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