1Q84: Buch 3
Geruch deutlich erkannt und mit Aomame gesprochen. Später hatte Kumi Adachi ihm von ihrem Tod und ihrer Wiedergeburt erzählt. Er hatte eine falsche Frage gestellt und eine mehrdeutige Antwort erhalten. Unablässig war aus dem Wäldchen der Ruf der Eule herübergetönt, und in einer Fernsehsendung hatte das Publikum laut gelacht.
Seine Erinnerung schweifte bald hierhin, bald dorthin. Einige Verbindungsstücke fehlten. Aber an die Teile, die vorhanden waren, konnte er sich erstaunlich gut erinnern. Er wusste noch jedes Wort, das gesagt worden war. Auch was Kumi Adachi zuletzt gesagt hatte. Es war ein Rat gewesen, vielleicht auch eine Warnung.
»Wenn es Tag wird, musst du von hier fortgehen, Tengo. Solange der Ausgang noch nicht geschlossen ist.«
Wahrscheinlich war es wirklich Zeit, den Rückzug anzutreten. Er hatte sich freigenommen und war hierhergekommen, um der zehnjährigen Aomame in der Puppe aus Luft zu begegnen. Fast zwei Wochen lang war er nun jeden Tag ins Sanatorium getrabt und hatte seinem Vater vorgelesen. Doch die Puppe aus Luft war nicht erschienen. Stattdessen hatte ihm Kumi Adachi, als er schon fast aufgeben wollte, eine andere Vision bereitet, in der er der kindlichen Aomame dennoch wiederbegegnet war und mit ihr hatte sprechen können. Finde mich, solange noch Zeit ist, hatte Aomame gesagt. Nein, gesagt hatte es wohl in Wirklichkeit Kumi Adachi. Es war nicht auseinanderzuhalten. Aber es war auch ganz gleich. Kumi Adachi war einmal gestorben und wiedergeboren worden. Nicht für sich selbst, sondern für jemand anderen. Tengo beschloss, vorläufig einmal zu glauben, was er gehört hatte. Das war wichtig. Wahrscheinlich.
Er war in der Stadt der Katzen. Bestimmte Dinge konnte man nur hier erfahren. Deshalb war er ja auch eigens angereist. Aber all das beinhaltete auch ein Risiko. Wenn er Kumi Adachis Hinweisen Glauben schenkte, konnte das sogar tödlich sein. Er spürte das nahende Unheil am Jucken seines Daumens.
Er musste nach Tokio zurück. Solange der Ausgang nicht verschlossen war und die Züge am Bahnhof hielten. Doch zuvor musste er noch einmal ins Sanatorium gehen und sich von seinem Vater verabschieden. Und da war noch etwas, von dem er sich überzeugen musste.
Kapitel 10
Ushikawa
Solide Beweise sammeln
Ushikawa machte sich auf den Weg nach Ichikawa. Er hatte das Gefühl, auf eine weite Reise zu gehen, aber in Wirklichkeit lag Ichikawa nur auf der anderen Seite eines Flusses am Rand der Präfektur Chiba. Von der Tokioter Innenstadt aus brauchte er gar nicht lange. Am Bahnhof stieg er in ein Taxi und nannte den Namen der Grundschule. Es war nach eins, als er dort ankam. Die Mittagspause war zu Ende, der Nachmittagsunterricht hatte begonnen. Aus dem Musiksaal ertönte Gesang, und auf dem Schulhof fand ein Fußballspiel statt. Schreiend jagten die Kinder dem Ball hinterher.
Ushikawa hatte keine guten Erinnerungen an seine Grundschulzeit. Er war schlecht in Sport gewesen, besonders Ballspiele waren ihm ein Graus, da er klein und schwerfällig war, unter einem Astigmatismus litt und von Natur aus keine guten Reflexe hatte. Jede Sportstunde war ein Albtraum für ihn. Dafür hatte er in den anderen Fächern ausgezeichnete Noten. Er war aufgeweckt und lernte gern (so hatte er auch mit fünfundzwanzig Jahren das juristische Staatsexamen bestanden). Aber er wurde weder gemocht noch respektiert. Einer Gründe dafür waren sicher seine miesen sportlichen Leistungen. Und natürlich sein Aussehen. Von Kindheit an war sein Gesicht zu groß, sein Kopf unförmig, und schlechte Augen hatte er auch. Seine dicken Lippen hingen zu beiden Seiten herunter, sodass es auch jetzt noch aussah, als würde er sabbern (was aber in Wirklichkeit niemals vorkam). Seine Haare waren struppig und ungepflegt. Kurzum: Seine äußere Erscheinung rief nicht gerade Sympathie hervor.
In der Schule machte er so gut wie nie den Mund auf, obwohl er wusste, dass er eigentlich gut reden konnte. Aber es gab niemanden, mit dem er erfreuliche Gespräche hätte führen können, und so hatte er niemals Gelegenheit, seine Beredsamkeit unter Beweis zu stellen. Er hielt lieber den Mund und gewöhnte sich daran, anderen sehr genau zuzuhören – ganz gleich, worum es ging – und daraus seinen Vorteil zu ziehen. Diese Gewohnheit entwickelte sich bald zu einem nützlichen Werkzeug, mit dessen Hilfe er viele wertvolle Fakten herausfand, zum Beispiel, dass die meisten Menschen nicht richtig denken konnten. Und dass gerade die, die nicht
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