1Q84: Buch 3
achtete sehr genau darauf, dass davon nichts nach außen drang. Tarnung war wahrscheinlich ihr einziges Mittel, um sich zu schützen. In einem normalen Umfeld wäre sie vermutlich eine ausgezeichnete Schülerin gewesen. Auch im Nachhinein finde ich das alles noch sehr schade.«
»Haben Sie versucht, mit den Eltern zu sprechen?«
Die Lehrerin nickte. »Sogar mehrmals. Sie haben sich wiederholt über religiöse Diskriminierung in der Schule beschwert. Damals habe ich sie gefragt, ob sie ihre Vorschriften nicht etwas lockerer handhaben könnten, damit Masami sich besser in die Klasse integrieren könne. Aber es war zwecklos. Für die Eltern gab es nichts Wichtigeres als die Einhaltung ihrer Glaubensvorschriften. Für sie bestand alles Glück darin, ins Paradies zu gelangen, das Leben im Diesseits war nicht mehr als ein flüchtiger Augenblick. Aber das waren Argumente aus einer Welt von Erwachsenen. Leider begriffen sie nicht, wie schädlich es für die Seele eines heranwachsenden Kindes ist, in der Schule geschnitten und zum Sündenbock gemacht zu werden. Welch tiefe Narben so etwas hinterlassen kann.«
Ushikawa teilte der Lehrerin mit, dass Aomame an der Universität, in ihrer Firma und in deren Softball-Mannschaft sehr erfolgreich gewesen sei und gegenwärtig als sehr gefragte Trainerin in einem angesehenen Sportstudio arbeite. Ehrlicherweise hätte er sagen müssen, »bis vor kurzem gearbeitet hat«, aber so genau wollte er es dann doch nicht nehmen.
»Es freut mich, das zu hören«, sagte die Lehrerin, und eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen. »Dann hat sie sich also trotz allem gut entwickelt und führt ein gesundes, unabhängiges Leben. Das beruhigt mich wirklich sehr.«
»Ach, eine etwas indiskrete Frage hätte ich noch«, sagte Ushikawa mit einem harmlosen Lächeln. »Wäre es möglich, dass Tengo Kawana und Aomame auf der Grundschule miteinander … befreundet waren?«
Die Lehrerin verschränkte die Finger und überlegte einen Moment. »Sein könnte es natürlich. Aber ich habe nichts davon bemerkt und auch nichts gehört. Allerdings kann ich mir nur schwer vorstellen, dass Aomame sich mit irgendjemandem aus der Klasse, ganz gleich mit wem, hätte anfreunden können. Vielleicht hat Tengo ihr die Hand entgegengestreckt, er war schließlich ein sehr gutherziges, verantwortungsbewusstes Kind. Aber selbst wenn, Aomame hätte sich sicherlich nicht geöffnet. Sie war verschlossen wie eine Auster an einem Felsen.«
Die Lehrerin schwieg. »Ich bedaure, Ihnen nichts anderes sagen zu können«, fügte sie dann hinzu, »aber ich habe damals nichts unternommen. Wie gesagt, es fehlte mir noch an Erfahrung.«
»Angenommen, Herr Kawana und Fräulein Aomame hätten damals wirklich Freundschaft geschlossen. So etwas hätte doch in der Klasse großes Aufsehen erregt und wäre Ihnen bestimmt zu Ohren gekommen, nicht wahr?«
Die Lehrerin nickte. »Intoleranz gab es auf beiden Seiten.«
Ushikawa bedankte sich. »Mit diesem Gespräch haben Sie mir sehr geholfen.«
»Aber die Sache mit Masami wird doch kein Hindernis für das Stipendium sein?«, fragte die Lehrerin beunruhigt. »Wenn in einer Klasse solche Probleme entstehen, liegt das letztlich in der Verantwortung des Klassenlehrers. Also in meiner. Weder Tengo noch Masami konnten etwas dafür.«
Ushikawa schüttelte den Kopf. »Seien Sie ganz unbesorgt. Ich überprüfe nur die faktischen Hintergründe seines Werkes. Sie wissen ja, wenn es um religiöse Fragen geht, wird es kompliziert. Herr Kawana ist außerordentlich begabt und wird sich in naher Zukunft einen Namen machen.«
Als die Lehrerin das hörte, lächelte sie zufrieden. Etwas in ihren kleinen Augen fing das Sonnenlicht ein und blitzte wie Gletschereis auf einem fernen Bergrücken. Sie denkt an Tengo, dachte Ushikawa. Obwohl das alles zwanzig Jahre zurücklag, erschien es ihr offenbar wie gestern.
Als Ushikawa vor der Schule auf den Bus zum Bahnhof Tsudanuma wartete, dachte er an seine Grundschullehrerin. Ob sie sich noch an ihn erinnerte? Aber selbst wenn, war es so gut wie ausgeschlossen, dass bei dieser Erinnerung ein freundliches Licht in ihren Augen aufglomm.
Was Ushikawa in Erfahrung gebracht hatte, entsprach fast genau seinen Vermutungen. Tengo war der Klassenprimus gewesen. Und außerdem beliebt. Aomame hingegen war von der ganzen Klasse geschnitten worden. Unwahrscheinlich, dass die beiden befreundet gewesen waren. Ihre Positionen waren zu verschieden. Und Aomame war in der fünften Klasse
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