1Q84: Buch 3
beiden ja nicht einmal etwas voneinander? Konnte es sich zufällig ergeben haben, dass sie unabhängig voneinander beide mit den Vorreitern zu tun hatten?
Auch wenn ein so großer Zufall schwer vorstellbar war, neigte Ushikawa eher zu dieser Möglichkeit als zu der Theorie einer gemeinsamen Verschwörung. Aomame und Tengo hatten die Vorreiter zufällig zur gleichen Zeit angegriffen. Jeder von seiner Seite, aus verschiedenen Beweggründen und mit verschiedenen Zielsetzungen. Es ging um zwei verschiedene, parallel zueinander verlaufende Stränge.
Ob die Vorreiter seine schöne Hypothese so einfach akzeptieren würden? Zunächst einmal sicher nicht, dachte Ushikawa. Auf die Verschwörungstheorie hingegen würden sie sich sofort stürzen. Verschwörungen waren ihr Ein und Alles. Bevor er ihnen unvollständiges Material präsentierte, musste er daher solide Beweise sammeln. Andernfalls würde er sie vielleicht auf eine falsche Fährte führen und sich damit womöglich selbst schaden.
Für die gesamte Dauer der Zugfahrt von Ichikawa nach Tsudanuma grübelte Ushikawa über diese Dinge nach. Dabei verzog er, ohne es zu merken, immer wieder das Gesicht, seufzte und starrte in die Luft. Eine Grundschülerin, die ihm gegenübersaß, musterte ihn verwundert. Seine Verlegenheit überspielend, kontrollierte er seine Mimik und fuhr sich mit der flachen Hand über den asymmetrischen Schädel. Doch mit dieser Geste erschreckte er die Kleine noch mehr. Kurz vor der Station Nishifunabashi sprang sie plötzlich auf und lief davon.
Ushikawa und Toshie Ota trafen sich nach Unterrichtsschluss in einem leeren Klassenzimmer. Tengos frühere Lehrerin war Mitte fünfzig, und ihre Erscheinung stand in krassem Gegensatz zu jener der gepflegten und eleganten Vizerektorin in Ichikawa. Sie war klein und stämmig, und von hinten erinnerte ihr Gang an einen Krebs. Obwohl sie eine kleine Metallbrille trug, war deutlich zu sehen, dass auf der Fläche zwischen ihren Augenbrauen ein zarter Flaum wuchs. Ihr Wollkostüm roch leicht nach Mottenpulver. Er wusste nicht, wann es geschneidert worden war, doch vermutlich war es schon damals nicht mehr der letzte Schrei gewesen. Es war von einem seltsamen Rosa, das wie aus den falschen Farben gemischt schien. Wahrscheinlich hatte man einen eleganteren, ruhigeren Farbton angestrebt, aber dieses Vorhaben war misslungen, und das Rosa war stattdessen von Nervosität, Zaghaftigkeit, Resignation und Melancholie getränkt, wodurch die nagelneue weiße Bluse, deren Kragen aus dem Kostüm hervorschaute, wie ein ungebetener Gast wirkte, der sich in eine Totenwache eingeschlichen hat. Frau Otas von weißen Fäden durchzogenes, trockenes Haar wurde von einer etwas peinlichen Plastikspange zusammengehalten. Ihre Arme und Beine waren dicklich und ihre kurzen Finger unberingt. Das Leben hatte ihren Hals mit drei feinen Linien gezeichnet. Vielleicht waren es auch die Male von drei Wünschen, die man ihr gewährt hatte. Ushikawa glaubte es aber nicht.
Während dreien von sechs Grundschuljahren war sie Tengo Kawanas Klassenlehrerin gewesen. Aomame hatte sie nur in der dritten und vierten Klasse unterrichtet.
»An Tengo kann ich mich noch sehr gut erinnern«, sagte sie.
Im Verhältnis zu ihrer betulichen Erscheinung klang ihre Stimme erstaunlich klar und jugendlich. Eine Stimme, die vermutlich bis in den letzten Winkel einer lärmenden Klasse drang. Es beeindruckte Ushikawa, wie sehr der Beruf einen Menschen formte. Frau Ota war bestimmt eine ausgezeichnete Lehrerin.
»Tengo Kawana war ein hervorragender Schüler, und zwar in allen Fächern. In den fünfundzwanzig Jahren, in denen ich an verschiedenen Grundschulen unterrichtet habe, bin ich nie mehr einem Kind begegnet, das so begabt war. Man konnte ihm aufgeben, was man wollte, er meisterte es mit Bravour. Außerdem verfügte er auch über sehr positive Charaktereigenschaften. Er zeigte sogar Führungsqualitäten. Offenbar hatte er für alles eine natürliche Begabung. In der Grundschule hat er sich besonders in Mathematik, das heißt in Arithmetik, hervorgetan, aber es überrascht mich überhaupt nicht, dass er sich der Literatur zugewandt hat.«
»Sein Vater arbeitete als Gebührenkassierer für NHK , nicht wahr?«
»Ja«, sagte die Lehrerin.
»Er hat mir einmal erzählt, dass sein Vater sehr streng war«, riet Ushikawa ins Blaue.
»Genau«, sagte die Lehrerin, ohne zu zögern. »Der Vater war ausgesprochen streng. Er nahm seine Arbeit sehr ernst, was natürlich
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