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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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hatte. Die Augen waren groß, die Wangenknochen ausgeprägt, die Haare etwa schulterlang. Ihr Körper war durchtrainiert. Aber diese Beschreibung traf auf viele Frauen zu.
    Jedenfalls konnte Ushikawa die Observierung nur selbst übernehmen. Er musste die Augen offen halten und geduldig darauf warten, dass etwas geschah. Und sofort reagieren, wenn etwas geschah. Mit einer so heiklen Operation konnte er niemand anderen beauftragen.
     
    Tengo wohnte im zweiten Stock eines älteren zweistöckigen Mietshauses aus Stahlbeton. Auf einem der Briefkästen, die im Flur neben dem Eingang angebracht waren, stand der Name Kawana . Die Briefkästen waren rostig, und die Farbe blätterte ab. Einige waren abgeschlossen, aber die meisten Bewohner machten sich nicht die Mühe. Die Eingangstür war offen, jeder, der ins Haus wollte, konnte hinein.
    In dem düsteren Treppenhaus herrschte der charakteristische Geruch älterer Mietshäuser. Er bestand aus einem Gemisch von undichtem Dach, billigem Waschmittel, alter Bettwäsche, ranzigem Tempura-Öl, verwelkten Weihnachtssternen, Katzen-Urin, der aus dem mit Unkraut überwucherten Vorgarten hereinwehte, und weiteren nicht identifizierbaren Gerüchen. Wenn man lange genug dort wohnte, gewöhnte man sich wahrscheinlich daran. Aber auch das änderte nichts an der Tatsache, dass es sich nicht gerade um einen berauschenden Duft handelte.
    Tengos Wohnung lag zur Straße hin. Sie war nicht sehr belebt, aber es kamen doch einige Fußgänger vorbei. In der Nähe war eine Grundschule, an der zuweilen buntes Treiben herrschte. Gegenüber reihten sich mehrere kleine Wohnhäuser aneinander, alle einstöckig und ohne Garten. Weiter die Straße entlang gab es eine Kneipe und ein Schreibwarengeschäft, in dem die Schulkinder einkauften. Zwei Querstraßen weiter lag ein kleines Polizeirevier. Nirgendwo in der ganzen Gegend konnte man sich ungesehen aufhalten. Wenn Ushikawa sich an die Straße stellte und zu Tengos Wohnung hinaufsah, würde er, selbst wenn Tengo ihn zufällig nicht entdeckte, den Argwohn der Nachbarn erregen. Bei einer Person von so anomalem Äußeren würden die Bewohner ihre Wachsamkeit wahrscheinlich verdoppeln. Womöglich würden sie ihn für einen Perversling halten, der den Schulkindern auflauerte, und die Polizei rufen.
    Um jemanden zu beobachten, musste man zuerst einen geeigneten Platz finden, an dem der Beobachtende vor Blicken geschützt und seine Versorgung mit Essen und Trinken gesichert war. Ideal wäre es gewesen, über ein privates Zimmer zu verfügen, von dem aus er Tengos Wohnung im Blick gehabt hätte. Dort hätte er dann einen Fotoapparat mit Teleobjektiv auf einem Stativ installieren und die Bewegungen in der Wohnung, das Kommen und Gehen eventueller Besucher beobachten können. Es war unmöglich, allein jemanden vierundzwanzig Stunden zu beobachten, doch zehn Stunden am Tag waren machbar. Allerdings war ein so ideales Versteck nicht leicht zu finden.
    Dennoch klapperte Ushikawa die ganze Nachbarschaft ab. Er war ein Mensch, der nicht so leicht aufgab. Nimmermüde verfolgte er bis zuallerletzt auch noch die winzigste Möglichkeit. Diese Hartnäckigkeit war seine persönliche Spezialität. Doch nachdem er den halben Tag lang in der ganzen Umgebung herumgelaufen war, brach er die Suche ab. Koenji war eine flache, dichtbesiedelte Wohngegend, in der es keine höheren Gebäude gab. Die Anzahl der Orte, von denen man einen Blick auf Tengos Wohnung hatte, war begrenzt, und es war nicht einer darunter, der sich für Ushikawas Zwecke geeignet hätte.
     
    Wenn Ushikawa nichts mehr einfiel, pflegte er ein ausgiebiges Bad zu nehmen. Also ließ er sogleich, als er nach Hause kam, Wasser in seine Plastikwanne ein, nahm darin Platz und hörte das Violinkonzert von Sibelius. Nicht, dass er besonders gern Sibelius hörte. Das Konzert war keine besonders geeignete Hintergrundmusik für jemanden, der am Ende eines langen Tages in der Badewanne saß. Vielleicht, dachte er, liebten die Finnen es, Sibelius zu hören, während sie in langen Nächten in der Sauna saßen. Aber für eine kleine Badezimmereinheit in einer Zweizimmerwohnung in Obinata im Stadtteil Bunkyo war diese Musik zu leidenschaftlich, und es war zu viel Spannung in ihr. Doch das störte Ushikawa nicht besonders. Ihm wäre jede Musik recht gewesen. Weder über ein Concert von Rameau noch über Schumanns Carnaval hätte er sich beschwert. Nun kam über den UKW -Sender eben zufällig das Violinkonzert von Sibelius, und damit

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