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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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hatte es sich.
    Wie immer ließ Ushikawa die eine Hälfte seines Bewusstseins ruhen. Mit der anderen dachte er nach. Das von David Oistrach dirigierte Stück strich hauptsächlich durch den leeren Bereich. Wie eine sanfte Brise flog es zum weit geöffneten Eingang hinein und zum weit geöffneten Ausgang hinaus. Wahrscheinlich war das keine besonders lobenswerte Art, Musik zu hören. Vielleicht hätte Sibelius, wenn er davon gewusst hätte, seine starken Brauen gerunzelt und sein Kinn in Falten gelegt. Aber Sibelius war schon lange tot, und auch Oistrach zählte bereits zu den Verstorbenen. Daher konnte es auch niemanden stören, wenn Ushikawa seine Gedanken frei durch die eine Hälfte seines Bewusstseins schweifen ließ, während die Musik zum linken Ohr hinein- und zum rechten wieder hinausging.
    Nachzudenken, ohne sich auf ein Ziel zu beschränken, gefiel ihm. Er ließ seine Gedanken frei umherschweifen wie Hunde auf einem weiten Feld. Er sagte ihnen, sie dürften laufen, wohin sie wollten, und tun, was ihnen gefiel, und dann ließ er sie los. Er selbst saß, geistesabwesend, die Augen halb geschlossen, bis zum Hals im heißen Wasser und lauschte der Musik, ohne sie zu hören. Die Hunde tollten ziellos umher, kugelten Hänge hinunter, setzten einander unermüdlich nach, machten vergeblich Jagd auf Eichhörnchen, wälzten sich im Schlamm und im Gras, und als sie, müde geworden, zurückkehrten, streichelte Ushikawa ihnen über die Köpfe und legte sie wieder an die Leine. Zu diesem Zeitpunkt endete auch die Musik. Das Konzert von Sibelius hatte eine Dauer von etwa dreißig Minuten. Genau die richtige Länge. Als Nächstes kündigte der Sprecher die Sinfonietta von Janáček an. Ushikawa erinnerte sich, schon einmal irgendwo von diesem Stück gehört zu haben, aber wo das gewesen war, wollte ihm nicht einfallen. Als er sich zu erinnern versuchte, verschwamm aus irgendeinem Grund plötzlich sein Blick und wurde von einer Art gelbem Dunst verschleiert. Bestimmt hatte er zu lange und zu heiß gebadet. Er schaltete das Radio aus. Als er das Bad verlassen hatte, holte er sich, nur ein Handtuch um die Hüften geschlungen, ein Bier aus dem Kühlschrank.
    Ushikawa lebte allein. Früher einmal hatte er eine Frau und zwei Töchter gehabt. Sie hatten ein Haus in Chuorinkan, einem Stadtteil von Yamato in der Präfektur Kanagawa, gekauft. Es hatte einen kleinen Garten, und sie hielten sich einen Hund. Seine Frau sah passabel aus, und seine Töchter konnte man sogar als hübsch bezeichnen. Keine von beiden hatte die geringste Ähnlichkeit mit Ushikawa, worüber man natürlich sehr erleichtert war.
    Doch plötzlich trat etwas ein, das man als üble Wendung hätte bezeichnen können, und er war allein. Er hatte sich selbst schon gewundert, dass er eine Familie hatte und in einem Haus in der Vorstadt lebte. Bisweilen fragte er sich sogar, ob er nicht einem Irrtum erlegen sei und sich diese Erinnerungen an die Vergangenheit unbewusst zurechtgebastelt hatte. Aber natürlich war all das wirklich passiert. Es gab eine Frau, mit der er das Bett geteilt hatte, und zwei leibliche Kinder. In einer Schublade seines Schreibtischs lag ein Familienfoto, auf dem sie alle fröhlich lachten. Sogar der Hund schien zu lächeln.
    Es war ausgeschlossen, dass er wieder mit seiner Familie zusammenkam. Seine Frau und seine Töchter lebten inzwischen in Nagoya. Seine Töchter hatten einen neuen Vater, der ganz normal aussah, sodass die Mädchen sich nicht genieren mussten, wenn er am Elternsprechtag in die Schule kam. Ushikawas Töchter hatten ihren leiblichen Vater schon vier Jahre nicht gesehen, doch sie schienen ihn nicht zu vermissen. Sie schrieben ihm nicht einmal. Ushikawa selbst bedauerte es ebenfalls nicht sehr, dass er seine Töchter nicht sehen konnte. Was natürlich nicht hieß, dass sie ihm nichts bedeuteten. Nur musste er vor allem auf sich selbst aufpassen und sich schützen. Daher war es notwendig, dass er vorläufig alle überschüssigen Herzensbindungen kappte.
    Und eins wusste er immerhin. Nämlich dass in den Adern seiner beiden Töchter sein Blut floss, ganz gleich, wie sehr sie sich von ihm entfernten. Selbst wenn sie ihn völlig vergaßen – dieses Blut würde nie seinen Weg verlieren. Blut hatte ein langes Gedächtnis. Irgendwann, irgendwo würde das Zeichen des Wasserkopfs wieder zum Vorschein kommen. Wenn niemand damit rechnete. Und dann würde man sich mit einem Seufzer an Ushikawa erinnern.
    Vielleicht würde Ushikawa das

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