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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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setzte ihre einsame Wacht ungehindert fort. Nein, so einsam bin ich ja gar nicht mehr, dachte sie. Ich habe ja das Kleine . Wir sind zu zweit. Zu zweit schauen wir zu den beiden Monden hinauf und warten, dass Tengo kommt. Ab und an griff sie nach dem Fernglas und betrachtete die leere Rutschbahn. Dann wieder nahm sie die Pistole, wog sie in der Hand und vergewisserte sich ihrer Form. Mich schützen, Tengo suchen, das Kleine mit Nahrung versorgen. Das sind jetzt meine Aufgaben.
     
    Eines Abends, als sie den von kalten Winden durchwehten Park beobachtete, stellte Aomame fest, dass sie an Gott glaubte. Dieser Umstand war eine unerwartete Entdeckung . Als würde sie, in einem Sumpf versinkend, plötzlich festen Grund unter den Fußsohlen verspüren. Die Erkenntnis war unverhofft und das Gefühl verblüffend. Solange sie denken konnte, hatte sie alles, was mit Gott zu tun hatte, verabscheut. Oder, um genauer zu sein, das System und die Menschen, die zwischen ihr und Gott vermittelten. Lange Zeit hatte sie dieses System und seine Vertreter mit Gott identifiziert. Sie zu hassen hieß, Gott zu hassen.
    Seit Aomames Geburt hatten die Menschen um sie herum sie keine Sekunde in Ruhe gelassen. Im Namen Gottes hatten sie sie beherrscht, ihr Befehle erteilt, sie in die Enge getrieben. Im Namen Gottes hatten sie ihr all ihre Zeit und ihre Freiheit gestohlen und ihr Herz in eiserne Ketten gelegt. Sie hatten ihr Gottes Gnade gepredigt und zweimal so oft seinen Zorn und seine Unduldsamkeit. Mit elf Jahren hatte Aomame endlich beschlossen, die Zeugen zu verlassen, obwohl sie dafür viel hatte aufgeben müssen.
    Ohne Gott wäre mein Leben viel heller, natürlicher und reicher, hatte Aomame oft gedacht. Ohne die ständige Furcht vor seinem Zorn hätte ich mir als ganz normales Kind zahllose schöne Erinnerungen schaffen können. Mein Leben wäre viel schöner, heiterer und erfüllter als mein jetziges.
    Und dennoch konnte Aomame, als sie, die Handflächen auf den Unterleib gelegt, durch die Plastikblenden auf den menschenleeren Park spähte, nicht anders, als sich darauf zu besinnen, dass sie in tiefstem Herzen an Gott glaubte. Ihr Glaube ging über die Grenzen ihres Bewusstseins hinaus, und wie von selbst faltete sie die Hände zum Gebet. Dieses Empfinden war ihr bis ins Mark gedrungen und ließ sich weder durch Vernunft noch durch Gewalt austreiben, weder durch Hass noch durch Furcht.
    Aber es ist nicht ihr Gott. Es ist mein Gott. Für ihn habe ich mein Leben geopfert, mir wurde ins Fleisch geschnitten. Meine Haut wurde zerfetzt, mein Blut vergossen, meine Nägel abgerissen, meine Zeit, meine Hoffnung und meine Erinnerungen wurden mir geraubt. Dieser Gott hat keine Gestalt. Er trägt kein weißes Gewand und auch keinen langen Bart. Dieser Gott hat keine Lehre, keine Schriften und keine Gebote. Er kennt weder Belohnung noch Strafe. Er gibt nicht, und er nimmt nicht. Für ihn gibt es keinen Himmel, in den man auffährt, und keine Hölle, in die man stürzt. Ob es warm ist oder kalt, Gott ist einfach da.
    Hin und wieder kam Aomame in den Sinn, was der Leader kurz vor seinem Tod gesagt hatte. Nie würde sie seinen kräftigen Bariton vergessen. Ebenso wenig wie sie vergessen würde, was sie empfunden hatte, als sie ihm die Nadel in den Nacken stieß.
     
    »Wo Licht ist, muss es auch Schatten geben, und wo Schatten ist, gibt es Licht. Es gibt keinen Schatten ohne Licht und kein Licht ohne Schatten. Ob das, was wir als Little People bezeichnen, gut ist oder böse, weiß ich nicht. Es übersteigt gewissermaßen unser Verständnis oder Definitionsvermögen.
    Schon seit Ewigkeiten leben wir mit ihnen zusammen. Seit der Dämmerung des menschlichen Bewusstseins, lange bevor es Gut und Böse gab.«
     
    Waren Gott und die Little People einander entgegengesetzte Wesenheiten? Oder waren sie verschiedene Seiten desselben Prinzips?
    Aomame wusste es nicht. Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie das Kleine in ihrem Bauch unter allen Umständen beschützen musste, und dazu war es notwendig, an Gott zu glauben.
    Aomame dachte über ihren Gott nach. Da er keine eigene Gestalt hatte, konnte er zugleich jede Gestalt annehmen. Zu dem Bild, das sie sich machte, gehörte ein schnittiges Mercedes-Coupé. Ein brandneuer Wagen, frisch vom Händler. Und die elegante, nicht mehr ganz junge Dame, die ihm entstieg. Sie gab der nackten Aomame auf der Stadtautobahn ihren schönen Frühjahrsmantel und schützte sie so vor dem kalten Wind und den rücksichtslosen

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