1Q84: Buch 3
aufgefallen. Eine solche Erscheinung wäre ja kaum zu übersehen.«
»So ist es, er sieht fast aus wie ein Zirkusclown. Hätten sie diesen Menschen geschickt, um uns auszukundschaften, dann hätten sie eine höchst ungeschickte Wahl getroffen.«
Aomame pflichtete ihr bei. Die Vorreiter würden doch wohl keinen dermaßen auffälligen Spion einsetzen. Da müsste es ihnen schon sehr an Personal mangeln. Vielleicht gehörte der Mann auch gar nicht zu den Vorreitern, und sie wussten noch nichts von der Beziehung zwischen Aomame und der alten Dame. Aber warum lungerte er dann am Frauenhaus herum? Vielleicht war es derselbe Mann, der sich als NHK -Kassierer ausgab und so hartnäckig an ihrer Tür klopfte. Für diese Annahme gab es eigentlich keinen vernünftigen Grund, doch das exzentrische Verhalten des falschen Kassierers schien ihr irgendwie zu dem bizarren Äußeren des beschriebenen Mannes zu passen.
»Sollte Ihnen ein solcher Mann auffallen, melden Sie sich bitte. Eventuell müssen wir Maßnahmen ergreifen.« Natürlich würde sie sich umgehend melden, sagte Aomame.
Wieder schwieg die alte Dame. Das kam nicht häufig vor. Normalerweise sprach sie am Telefon sehr dienstlich und fast streng, um keine Zeit zu vergeuden.
»Wie geht es Ihnen denn?«, fragte Aomame beiläufig.
»Wie immer, ich kann nicht klagen«, sagte die alte Dame. Aber aus ihrer Stimme war ein leichtes Zögern herauszuhören. Auch das kam nicht oft vor.
Aomame wartete.
»Nur, dass ich mein Alter inzwischen immer spüre«, sagte sie nach einem Moment resigniert. »Vor allem, seit Sie fort sind.«
»Aber ich bin doch nicht fort«, sagte Aomame betont heiter. »Ich bin doch hier.«
»Natürlich. Sie sind da, und wir können am Telefon miteinander reden. Aber als ich Sie regelmäßig sehen und mit Ihnen trainieren konnte, habe ich mich viel vitaler gefühlt. Das war Ihr Verdienst.«
»Sie sind von Natur aus sehr vital. Ich habe Ihnen nur geholfen, diese Eigenschaft systematisch zum Vorschein zu bringen. Sie haben auch ohne mich viel Lebenskraft.«
»Ehrlich gesagt habe ich das bis vor kurzem auch noch gedacht«, sagte die alte Dame und lachte leise. Doch ihrem Lachen fehlte der Glanz. »Ich habe mir eingebildet, ich sei etwas Besonderes, eine Ausnahme. Aber das Alter raubt allen Menschen das Leben. Ganz allmählich. Kein Mensch stirbt einfach, wenn seine Zeit gekommen ist. Man stirbt langsam, von innen her, und irgendwann ist dann Schluss – Zahltag. Dem kann niemand entkommen. Der Mensch muss für das, was er bekommen hat, bezahlen. Erst jetzt erkenne ich das.«
Der Mensch muss für das, was er bekommen hat, bezahlen. Aomame runzelte die Stirn. Etwas ganz Ähnliches hatte der NHK -Kassierer auch gesagt.
»Dieser Gedanke kam mir ganz plötzlich an jenem Abend im September bei diesem schweren Unwetter«, sagte die alte Dame. »Ich saß allein in meinem Salon und dachte an Sie. Ich beobachtete das Zucken der Blitze, und es war, als erhellten sie mit ihrem Licht die Wahrheit für mich. An diesem Abend habe ich Sie verloren und zur gleichen Zeit einige Dinge, die in mir waren. Dinge, die der Mittelpunkt meiner Existenz waren und mein ganzes Dasein beherrschten.«
»War Zorn eines davon?«, fragte Aomame kühn. Eine Stille entstand, wie auf dem Grund eines ausgetrockneten Sees. Dann ergriff die alte Dame wieder das Wort. »Sie meinen, ob mein Zorn zu den Dingen gehörte, die ich damals eingebüßt habe?«
»Ja.«
Die alte Dame holte langsam Luft. »Die Antwort ist Ja. Mitten in diesem verheerenden Gewitter verschwand plötzlich der brennende Zorn in mir. Zumindest ist er in weite Ferne gerückt. Er hatte sich in eine Art bleiche Traurigkeit verwandelt. Ich hatte geglaubt, dass ein so glühender Zorn niemals vergehen könne … Aber woher wissen Sie das?«
»Weil mir das Gleiche passiert ist. An diesem Gewitterabend.«
»Sie sprechen von Ihrem Zorn, nicht wahr?«
»Ja. Ich kann den reinen, starken Zorn, den ich in mir hatte, nicht mehr spüren. Nicht, dass er verschwunden wäre, aber er ist, wie Sie es ausgedrückt haben, in weite Ferne gerückt. Lange Zeit hat dieser Zorn großen Raum in mir eingenommen. Er hat mich angetrieben.«
»Wie ein erbarmungsloser Kutscher, der weder Rast noch Ruhe kennt«, sagte die alte Dame. »Doch nun hat er seine Macht verloren, und Sie sind schwanger. ›Stattdessen‹, könnte man fast sagen.«
Aomame bemühte sich, ruhig zu atmen. »Ja, stattdessen habe ich das Kleine in mir. Es steht in keiner Beziehung
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