1Q84: Buch 3
im Norden musste es eine Quelle mit einem unerschöpflichen Vorrat an Wolken geben. Ausdauernde, entschlossene Menschen in dicken grauen Uniformen produzierten dort unablässig neue. Wie Bienen Honig, Spinnen Netze und Kriege Witwen.
Tengo sah auf die Uhr. Kurz vor acht. Der Park war leer. Ab und zu eilte jemand die nahegelegene Straße entlang. Die Menschen hatten alle einen ähnlichen Gang, wenn sie auf dem Heimweg von der Arbeit waren. In dem neuen fünfstöckigen Apartmentgebäude auf der anderen Straßenseite brannte nur in etwa der Hälfte der Fenster Licht. An stürmischen Winterabenden wie diesem strahlten hellerleuchtete Fenster eine besonders anheimelnde Wärme aus. Tengo ließ seinen Blick darübergleiten. Es war, als würde er von einem kleinen Fischerboot auf dem nächtlichen Ozean zu einem prächtigen Luxusdampfer hinaufsehen. Von seinem Platz auf der kalten Rutschbahn in dem dunklen Park aus erschienen ihm die Fenster wie Tore zu einer anderen Welt. Einer Welt, in der andere Prinzipien und Regeln herrschten. Wie auf Verabredung waren überall die Vorhänge zugezogen. Gewiss führten die Menschen dahinter ein ganz alltägliches Leben und waren heiter und glücklich dabei.
Ein ganz alltägliches Leben?
Tengos Bild von einem ganz alltäglichen Leben war nur ein Stereotyp, dem es an Tiefenschärfe und Farbe mangelte. Ein Ehepaar, vielleicht zwei Kinder. Die Mutter trug eine Schürze. Dampfende Schlüsseln, Gespräche am Esstisch – und schon stieß Tengo an die Grenzen seiner Vorstellungskraft. Worüber unterhielt sich eine ganz normale Familie , wenn sie beim Abendessen saß? Er konnte sich nicht erinnern, sich beim Essen jemals mit seinem Vater unterhalten zu haben. Stets hatte jeder für sich, zu einem selbstgewählten Zeitpunkt, schweigend sein Essen in sich hineingestopft. Eigentlich war auch das, was sie aßen, gar nicht richtig als Mahlzeit zu bezeichnen.
Nachdem Tengo seinen Blick über sämtliche erleuchtete Fenster des Apartmenthauses hatte wandern lassen, schaute er wieder zu den Monden hinauf. Doch alles Warten half nicht, keiner der beiden Monde ließ sich dazu herab, ihm etwas mitzuteilen. Sie wandten ihm ihre ausdruckslosen Gesichter zu wie ein hinkendes Verspaar, das der Verbesserung bedurfte. Heute keine Botschaft – das war die einzige Botschaft, die sie Tengo übermittelten.
Unermüdlich zogen die Wolken auf ihrer Reise gen Süden über den Himmel. Sie kamen und gingen in verschiedensten Formen und Größen. Darunter waren interessante Gebilde, die wie der Ausdruck ihrer eigenen ungewöhnlichen Gedanken schienen. Kleiner, fester, deutlich umrissener Gedanken. Aber Tengo wollte nicht wissen, was die Wolken dachten. Ihn interessierten nur die Monde.
Irgendwann gab er auf und erhob sich, streckte sich ausgiebig und kletterte von der Rutschbahn. Mehr konnte er nicht tun. Immerhin wusste er nun, dass es noch immer zwei Monde waren. Die Hände in den Taschen seiner Lederjacke, verließ er den Park und machte sich langsam ausschreitend auf den Heimweg. Unterwegs musste er plötzlich an Komatsu denken. Es wurde Zeit, wieder einmal mit ihm zu sprechen. Dinge, die zwischen ihnen passiert waren, in Ordnung zu bringen. Auch Komatsu hatte ihm sicher einiges zu sagen. Tengo hatte ihm die Telefonnummer des Sanatoriums in Chikura hinterlassen, aber er hatte sich nicht gemeldet. Er nahm sich vor, Komatsu morgen von sich aus noch einmal anzurufen. Zuvor musste er jedoch den Brief lesen, den Fukaeri in der Schule für ihn hinterlegt hatte.
Fukaeris Brief lag noch ungeöffnet in seiner Schreibtischschublade. Ein ziemlich nüchterner, kurzer Brief von einer halben Seite. Sie hatte ihn mit blauem Kugelschreiber in ihren üblichen keilschriftartigen Zeichen verfasst, sodass er eigentlich eher einer Tontafel glich als einer Nachricht auf Papier. Tengo wusste, dass sie sehr lange brauchte, um solche Zeichen zu schreiben.
Er las den Brief mehrmals. Darin stand, sie habe seine Wohnung verlassen müssen . Jetzt sofort, schrieb sie, da Tengo und sie beobachtet würden. Diese drei Stellen waren mit einem weichen Bleistift dick unterstrichen, was ihnen erschreckenden Nachdruck verlieh. Wer es war, von dem sie beobachtet wurden, und woher Fukaeri das wusste, wurde nicht erklärt. In der Welt, in der sie lebte, konnten Fakten anscheinend nicht so dargestellt werden, wie sie waren. Die Dinge erschlossen sich durch Anspielungen und Rätsel oder durch fehlende Glieder und Variationen. Als habe man eine Karte
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